Dienstag, 16. August 2016

[Rezension Ingrid] Der letzte Sommer von Helen Simonson


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Titel: Der letzte Sommer
Autorin: Helen Simonson
Übersetzerin: Michaela Grabinger
Erscheinungsdatum: 19.07.2016
Verlag: Dumont Verlag (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen

„Der letzte Sommer“ oder „Der Sommer vor dem Krieg“ wie das Buch von Helen Simonson in der Übersetzung des englischen Originaltitels heißt nimmt den Leser mit ins Jahr 1914. Die Autorin siedelt ihre Geschichte in der Kleinstadt Rye in der Grafschaft East Sussex im Südosten England an, die sie bestens kennt weil sie in der Gegend aufgewachsen ist.

Gediegen sind die Herrenhäuser eingerichtet, in denen die Frauen auf ihre Ehemänner unter der Woche warten, die im fernen London ihren Regierungsgeschäften nachgehen. Besonderes viel Achtung finden vor allem die Adeligen. Der tägliche Fünf-Uhr-Tee gehört zum gesellschaftlichen Leben hinzu, bei dem unter den Anwesenden Klatsch und Tratsch ausgetauscht und anstehende Entscheidungen des Alltags diskutiert werden. Das Ritual spiegelt sich im Cover wieder.

Agatha Kent gehört auch zu den erwähnten Frauen, auch wenn sie keinen Adelstitel trägt. Gerne gesellen sich in den Semesterferien ihre beiden Neffen Hugh, der angehende Mediziner, und Daniel, der von einem Leben als Dichter an der Seite seines Freunds träumt, zu ihr. Die beiden schätzen die fortschrittlichen Gedanken ihrer Tante, die vor noch nicht allzu langer Zeit in den Schulbeirat gewählt wurde, der aktuell über die Einstellung eines neuen Lateinlehrers zu entscheiden hat. Sie hat für Beatrice Nash gestimmt. Aber eine Frau in diesem Fach ist umstritten, zumal sich herausstellt, dass Beatrice jünger und attraktiver ist als zunächst vermutet. Doch die angehende neue Lehrerin zerstreut schnell die Zweifel des Beirats, weil sie glaubhaft versichert keine Ehe eingehen zu wollen. Sie möchte sich ihre einmal gewonnene Freiheit der Entscheidungen nach dem Tod ihres Vaters, dem sie stets zur Seite war und den sie auf seinen Reisen begleitet hat, nicht zu verlieren.

Unterdessen ziehen die ersten deutschen Truppen gegen Frankreich und veranlassen Großbritannien zum Kriegseintritt. Die ersten Bewohner der Kleinstadt melden sich zum Kriegsdienst. Vor Ort werden Aktionen zum Spendensammeln durchgeführt und Lebensmittel bevorratet. Fast jeder hat den Wunsch, das Vaterland im Kampf auf seine Weise zu unterstützen.

„Der letzte Sommer“ ist zunächst ein ruhiges Buch. Die Autorin beschreibt das beschauliche Leben mit großen und kleinen Problemen in Rye. Neben dem Tagesgeschehen in den herrschaftlichen Familien beschreibt sie auch beispielhaft den Alltag der ärmeren Bevölkerung. Später kommt das Schicksal einiger Weltkriegs-Flüchtlinge aus Belgien hinzu, die Aufnahme in der Kleinstadt finden. Als der Krieg ausbricht, scheint er zunächst noch weit entfernt. Gönnerhaft machen sich einige Gedanken dazu, wie man aus der Ferne helfen kann. Doch im Laufe der Wochen wird die Lage immer ernster, immer mehr Engländer leisten ihren Dienst an der Front. Der Krieg beginnt sein hässliches Gesicht zu zeigen. Und bald schon kennt auch in Rye jeder jemanden der einen lieben Menschen im Kampf verloren hat oder zumindest schwer verletzt wurde. Auch Familie Kent bleibt davon nicht verschont. Helen Simonson stellt das Leben zur damaligen Zeit überzeugend realistisch dar. Die Ereignisse sind in ihrer Schilderung erschreckend, die Folgen der Fronteinsätze grausam. Glücklicherweise erspart die Autorin dem Leser detaillierte Kampfbeschreibungen.

Beatrice ist eine selbstbewusste Frau, die sich gegen die in ihren Kreisen erwartete Ehe als soziale Absicherung stemmt. Sie selbst ist wohl am meisten von sich selbst überrascht als sie feststellt, dass sich aus einer Freundschaft im Laufe der Zeit mehr entwickelt und tiefe Gefühle in ihr wachgerufen werden. Die Autorin versammelt interessante Personen im Hause Kent und im Umfeld der Familie, die bewusst nicht immer einer Meinung sind. Ihre Charaktere stattet sie liebevoll mit verschiedensten Eigenarten aus. 

Die Autorin bedient sich einer ausgefeilten Sprache, die sich flüssig lesen lässt. Obwohl die Schatten des Krieges über der ganzen Geschichte liegen, ist der Roman charmant geschildert und in den Dialogen blitzt immer wieder der Sarkasmus auf, der teilweise auch der angespannten Lage geschuldet ist. Neben der Einbindung in die geschichtlichen Ereignisse finden auch politische und sozialkritische Themen Eingang in die Erzählung. Immer wieder zoomt sie ganz nah ran, schildert Szenen detailreich und richtet den Blick des Lesers sowohl auf das Kleine als auch auf das Wesentliche.

Für viele endet mit Kriegsausbruch der Lebenstraum. „Der letzte Sommer“ fängt einige dieser Vorstellungen ein. Viele der Figuren habe ich lieb gewonnen und obwohl der Verlauf des Ersten Weltkrieges allseits bekannt ist, hat mich deren Schicksal betroffen gemacht. Wer sich für die damalige Zeit interessiert, ist hier genau richtig und wird sich wie ich in der Geschichte verlieren. Gerne gebe ich dafür eine Leseempfehlung.

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