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Samstag, 28. Oktober 2017

[Rezension Hanna] Außer sich - Sasha Marianna Salzmann


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Außer sich
Autorin: Sasha Marianna Salzmann
Hardcover: 366 Seiten
Erschienen am 11. September 2017
Verlag: Suhrkamp Verlag

Inhalt
Ali reist nach Istanbul, um dort ihren Bruder Anton zu suchen. Denn seit dieser verschwunden ist hat er nichts von sich hören lassen, nur eine Postkarte aus ebendieser Stadt hat er geschickt. Doch wie findet man einen Bruder in einer solchen Metropole? Bald trifft sie auf Katho, der ihre Gedanken rund um ihre Identität ins Wirbeln bringt, und auf ihre Erinnerungen an all die Geschichten ihrer Familie in den Generationen vor ihr.

Meinung
Das Buch beginnt mit einer kurzen Erinnerung von Ali daran, wie sie mit ihrer Familie von Russland nach Deutschland gekommen ist. Danach trifft der Leser ihr erwachsenes Ich bei ihrer Ankunft in Istanbul wieder. Sie geht dem einzigen Hinweis auf den Verbleib ihres Bruders nach. Der Onkel eines Freundes kümmert sich vor Ort ein wenig um sie, und bald lag ich gedanklich neben Ali auf dessen wanzenbefallenem Sofa und tauchte ein in ihre Erinnerungen und Überlegungen.

Die Ereignisse im Buch sind nicht chronologisch erzählt und schon bald gerät Alis Suche nach Anton in den Hintergrund. Viel wichtiger wird ihre Auseinandersetzung mit der eigenen Identität. Da ist zum einen Katho, der eigentlich eine Sie ist, sich aber schon länger Testosteron spritzt und damit eine Möglichkeit nutzt, mit der auch Ali sich bei der Frage „Wer will ich sein“ beschäftigt. Ali beobachtet viel; dabei weiß man oft nicht, was Realität ist und was nur Illusion. Oft lässt sie sich und ihre Gedanken treiben ohne Ambition auf ein irgendwo Ankommen. Ich gewann immer mehr Informationen über sie als Person hinzu und konnte sie doch nie ganz greifen.

Zum anderen taucht man immer tiefer in die Geschichten einzelner Vorfahren ein: Der ihrer Eltern, der Eltern ihrer Mutter, der Eltern dieser Großmutter… Man erfährt, was diese bewegt hat, wie sie gelebt haben und wonach sie sich gesehnt haben. Als russische Juden wurden sie über die Jahrzehnte immer wieder Opfer von Ausgrenzung und Gewalt und haben für die Realisierung von ganz unterschiedlichen Vorstellungen eines ausgefüllten Lebens gekämpft. Beim Lesen der verschiedenen Lebensgeschichten entsteht allmählich ein Eindruck, der sich für mich wie ein Puzzle anfühlte, bei dem nicht alle Teile zusammenpassen und trotzdem die Ahnung eines Bildes entsteht. Hilft all das Ali, für sich selbst und ihre Zukunft Klarheit zu schaffen? Das wird nicht abschließend beantwortet. In jedem Fall hilft es beim Blick zurück und dem Verständnis, wo sie herkommt.

Die Suche nach der eigenen Identität dreht sich um Heimat, Familie und das eigene Fühlen, zu einem großen Teil aber auch um die sexuelle Identität. Viele der insbesondere in der Gegenwart handelnden Personen haben zu dieser ein aus meiner Sicht gestörtes Verhältnis. Die Frage, ob man sich als Mann oder Frau fühlt ist völlig berechtigt und heute kein Tabu mehr. Doch es wird mit Männern und Frauen fast jeden Alters geschlafen, auch innerhalb der eigenen Familie; Prostitution, Missbrauch und Vergewaltigung werden thematisiert. Die oft abstoßenden Schilderungen erschreckten mich und ebenso die Apathie, mit der so mancher Charakter das hinnahm. Der Roman überschreitet hier bewusst Grenzen und rückt dafür andere Aspekte in den Hintergrund, über die ich gerne mehr erfahren hätte, wie die Reaktionen auf Alis Wandlung und ihre Jugend in Deutschland. Der Abschluss ist schließlich wie das ganze Buch eine große Frage mit einer kleinen Antwort, ein mit stumpfer Schere abgeschnittener Faden, der zerfasert und mich aufgewühlt und in Gedanken vor allem bei Alis Familiengeschichte zurücklässt.

Fazit
„Außer sich“ berichtet von Ali, die in Istanbul nach Anton sucht, und mehr noch nach Antworten auf die Frage, wo sie herkommt und wer sie sein will. Die Struktur der Geschichte ist kunstvoll; dabei haben bei mir insbesondere die Puzzlestücke rund um Alis Vorfahren und ihre Einwanderung nach Deutschland einen Eindruck hinterlassen, während mir der Fokus auf einige Grenzüberschreitungen zu stark war. Das Lesen ist wie ein Segeln im Sturm, bei dem man mal hierhin, mal dorthin getragen wird und worauf man sich einlassen sollte.