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Mittwoch, 5. Juni 2019

Rezension: Wir sehen uns unter den Linden von Charlotte Roth


Rezension von Ingrid Eßer

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Titel: Wir sehen uns unter den Linden
Autorin: Charlotte Roth
Erscheinungsdatum: 01.04.2019
ISBN: 9783426522356
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Bereits der Titel des Romans „Wir sehen uns unter den Linden“ von Charlotte Roth verrät, dass die Geschichte in Berlin spielt. Entsprechend vereinbaren Ilo und Volker im Jahr 1928 wie auch Sanne und Kelmi 25 Jahre später ihre Treffen auf der Prachtstraße der damaligen Hauptstadt. Das Cover ist zwar schlicht gestaltet, sagt aber über die Beziehungen der Paare aus, dass ihr Leben schicksalhaft nicht nur sichtbar von dunklen trüben Wolken überschattet ist.

Ilona, kurz Ilo gerufen, hat eine glänzende Zukunft als Schauspielerin und Sängerin vor sich. Als sie 1928 den angehenden Lehrer und Sozialisten Volker trifft und die Machtergreifung der Nationalsozialisten immer mehr Ressentiments mit sich bringt passt sie ihre Pläne an. Aufgrund seiner politischen Aktivitäten erhält ihr Ehemann Volker im weiteren Verlauf Berufsverbot. Inzwischen ist die Familie mit Tochter Susanne komplett und die Liebe überwiegt auch in den Kriegstagen die schlechte Lebensbasis durch die zunehmenden Einschränkungen. Zum Ende des Krieges hin wird Volker denunziert und von den Nationalsozialisten vor den Augen seiner fünfzehnjährigen Tochter erschossen.

Susanne eifert ihrem Vater nach, wird Lehrerin, engagiert sich politisch ganz in seinem Sinne und hilft im Ostteil Berlins, im dem die Familie seit langen Jahren wohnt, beim Aufbau. Eines Tages lernt sie den Koch Kelmi kennen, der im Westteil wohnt und im Ostteil nach einer Lokalität für ein eigenes Restaurant sucht. Bei gemeinsamen Treffen lernen sich beide nicht nur besser kennen, sondern erfahren immer mehr, dass sie in vielen Punkten eine andere Lebenseinstellung haben, die geprägt ist von ihrem Umfeld. Die politische Lage spitzt sich zunehmend zu, bis es schließlich im August 1961 zum Mauerbau kommt und damit jeder Berliner eine endgültige Entscheidung für einen Stadtteil und damit auch für einen Staat treffen muss, in dem er leben will.

Charlotte Roth hat interessante, abwechslungsreich gestaltete Figuren in ihrem Roman verwoben. Mit Ilo und Volker sowie Sanne und Kelmi treffen sehr unterschiedliche Charaktere aufeinander. Ilona stammt aus gut betuchtem Hause, durch ihren Beruf ist ihr Bewunderung sicher. Volker ist der Sohn eines einfachen Arbeiters. Er kämpft für die gerechte Verteilung der vorhandenen Güter und stellt sich aktiv auf die Seite der Sozialisten. Kelmi ist eigensinnig, aber warmherzig und wurde mir daher als Person schnell sympathisch. Auch er stammt aus einer begüterten Familie im Westteil Berlins, was wegen seiner Herkunft zu genügend Konfliktpotential mit der ganz im ideologischen Sinne ihres Vaters handelnden Sanne führt. 

Bis in die Nebenhandlungen hinein hat Charlotte Roth mit Gefühl ihre Figuren gut ausformuliert. Um einen Überblick über die gesellschaftspolitische Lage im Zeitraum der Geschichte zu geben, schafft sie Figuren, die durch ihr Sein und Handeln den jeweiligen Zeitgeist wiedergeben wie beispielsweise die Jüdin Sidonie an der Seite des Kulturagenten Eugen sowie die behinderte Schwester von Volker und die Nachbarn von Ilo und ihrer Familie. Deutlich und begründet lässt sie die unterschiedlichen Gesinnungen hervortreten.

Gekonnt vermittelte mir die Autorin den geschichtlichen Hintergrund. Dabei bleibt sie neutral und wertet nicht. Auf diese Weise konnte ich mir selber eine Ansicht darüber bilden, warum es zu einem geteilten Deutschland gekommen ist. Mit viel Liebe für ihre Geburtsstadt schildert Charlotte Roth die Örtlichkeiten der Hauptstadt, die bereits damals ein besonderes Flair hatte.

Mit dem Roman „Wir sehen uns unter den Linden“ blickt Charlotte Roth auf ein Stück Zeitgeschichte Deutschlands von den Jahren vor dem 2. Weltkrieg bis zum Beginn des Baus der Mauer. Ihre Schilderungen sind authentisch und ihre Figuren werden in ihrem Umfeld lebendig. Gerne empfehle ich das Buch an alle Leser weiter, die sich für historische Romane interessieren.