Dienstag, 12. August 2025

Rezension: Wedding People von Alison Espach


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Wedding People
Autorin: Alison Espach
Übersetzerin aus dem amerikanischen Englisch: Verena Ludorff
Erscheinungsdatum: 28.07.2025
Verlag: Lübbe (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband
ISBN: 9783757701291
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Phoebe Stone hat nicht damit gerechnet, dass sie ausgerechnet an dem Tag, an dem sie beschlossen hat zu sterben, mitten in eine trubelige Hochzeitsgesellschaft geraten wird. Sie ist eine der beiden Protagonistinnen des Romans „Wedding People“ der US-Amerikanerin Alison Espach. Als Professorin für Literatur des 19. Jahrhunderts lehrt sie in St.Louis/ Missouri und ist 40 Jahre jung. Vieles in ihrem Leben ist nicht nach Wunsch verlaufen. Ein Luxushotel im zweitausend Kilometer entfernten Newport/Rhode Island, das bisher für einen Urlaub aufgrund der hohen Kosten für sie nicht in Frage kam, soll ihr Glücksort sein. Doch will sie ihre letzten Stunden verbringen.

Die zweite Protagonistin ist Delilah Lancaster, von allen kurz Lila gerufen. Sie steht kurz vor ihrer Heirat mit ihrem Freund Gary. Um den Anlass ausgiebig zu feiern, hat Lila für ihre Gäste eine ganze Woche lang alle Zimmer eben jenes Hotels in Newport gemietet. Die 28-Jährige stammt aus einer großen Familie, hat ein beträchtliches Vermögen geerbt, arbeitet in der nahegelegenen Kunstgalerie ihrer Mutter und die Festwoche bis ins Detail geplant. Sie glaubt, dass es ein Irrtum sein muss, wenn nun ausgerechnet Phoebe das schönste aller Zimmer erhält. Nachdem sie von Phoebes Plänen erfahren hat, will sie diese um jeden Preis verhindern.

Für ihren Lebenstraum hat Phoebe beruflich zurückgesteckt, doch sie ist in manchem gescheitert. Einmal jedoch möchte sie es sich uneingeschränkt gut gehen lassen. Lila hingegen erfüllt sich dank ihrer soliden finanziellen Lage jeden Wunsch und macht gern auch anderen eine Freude. Wenn sie erst einmal von etwas begeistert ist, redet sie endlos darüber.

Was zunächst so erscheint, als ob beide keine gemeinsame Gesprächsebene finden, erweist sich später als ein Glücksfall, dass sie einander begegnet sind. Lila hat zwar einige FreundInnen, aber niemanden, der ihr offen begegnet und sie auch in schwierigen Momenten stützt. Phoebe erkennt das sehr schnell. Weil sie einander fremd sind, erzählen sie sich Dinge, die man Nahestehenden nicht anvertrauen würde, ohne Risiko für Ansehen oder Beziehungen, da ihre Probleme keine Berührungspunkte haben. Endlich hat Lila jemanden, mit der sie über ihre eigene und die Familie ihres Auserwählten reden kann. Beide Protagonistinnen haben ihre Ecken und Kanten, die sie auf ihre ganz eigene Weise interessant machen.

Zu Beginn wirkte der Roman wegen Phoebes Plan auf mich bedrückend. Doch Alison Espach schafft es, genau die richtige Dosierung Zynismus und Witz in die Geschichte einzubringen, ohne ihr die inhaltliche Tiefe zu nehmen. Jedem Tag der Hochzeitswoche ist ein eigenes Kapitel gewidmet, dessen Titel das jeweilige Highlight der anstehenden Aktivitäten verrät. In Rückblenden erfährt man, wieso Phoebes Ehe mit Matt, ihre Arbeit an der Universität und ihr Wunsch nach einem eigenen Kind dazu geführt haben, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Ebenso liest man von Lilas Verlust des Vaters und wie sie ihren zukünftigen Mann kennenlernte. Bald verweben sich die beiden zunächst getrennten Handlungssträngen zu einer gemeinsamen Erzählung, in der immer wieder Neues und Unerwartetes geschieht.

Der Roman „Wedding People“ überrascht mit zwei Protagonistinnen, die sich trotz unterschiedlicher Charakterzüge und verschiedener Ansichten über manche Dinge dennoch gut austauschen können. Alison Espach bringt eine Fülle von Gefühlen zum Ausdruck: von bitterer Enttäuschung bis zu ausgelassener Freude, von Respekt bis zu Liebe und Anerkennung. Die Geschichte bewegt, unterhält und hallt nach, weswegen ich gerne eine Leseempfehlung vergebe.

Dienstag, 5. August 2025

Rezension: Im Schatten von Giganten von Jasmin Schreiber

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Im Schatten von Giganten
Das Leben im Moos, auf Blüten und unter Steinen
Autorin und Fotografin: Jasmin Schreiber
Erscheinungsdatum: 21.07.2025
rezensierte Buchausgabe: Hardcover
ISBN: 9783440179871
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Die Autorin Jasmin Schreiber, die das Studienfach Biologie mit einem Master abgeschlossen hat und auch für renommierte Wissenschaftsmagazine schreibt, ist eine ebenso versierte Fotografin. In ihrem Buch „Im Schatten von Giganten – Das Leben im Moos, auf Blüten und unter Steinen“ bringt sie ihre Kenntnisse und ihre Leidenschaft zusammen und präsentiert 138 ihrer Bilder. Sie werden von informativen Texten der Schriftstellerin über die Lebensräume kleinster Lebewesen begleitet.

Das Buch beginnt mit einer Einführung, in der Jasmin Schreiber sich selbst vorstellt und erklärt, wie sie die Liebe zur Natur gefunden hat. Es folgen acht Kapitel, die nach Mikrohabitaten unterteilt sind. Die Autorin betrachtet darin das Leben der Kleinstlebewesen unter Steinen, im Totholz, im Kraut, im Baum, im Moospolster, in der Blüte, in der Pfütze sowie in Kadavern und Dung. Mit der Einladung, selbst die Natur zu erkunden, beendet sie das Werk.

Innerhalb der Kapitel unterteilt die Schriftstellerin erneut, indem sie zunächst das Habitat beschreibt. Beispielsweise erklärt sie die Bedeutung von Totholz, Bäumen und Moosen für die Natur und ihrer Lebewesen bevor sie, nicht nur mit der Kamera, näher heranzoomt. Sie betrachtet Asseln, Käfer, Spinnen und Schnecken, aber auch Pilze, Flechten und einiges anderes. Immer wieder heitert sie mit FunFacts die wissenschaftlich fundierten Beschreibungen der Fauna und Flora auf und lässt eigene Erfahrungen im Umgang mit der Natur einfließen. In mehreren Informationskästen werden unter anderem unterschiedliche Lebensstile erläutert, das Verfahren Lichenometrie erklärt, verschiedene Formen von Totholz aufgeführt und auch der Aufbau von Moosen.

Trotz der Fülle an Fotos findet sich nicht immer ein Bild zu dem im Text beschriebenen Tier oder der dargestellten Pflanze. Jedoch gibt es am Ende des Buches ein Glossar, dessen Seitenzahlen zu einem Foto der genannten Arten verweisen. Ein großer Pluspunkt des Buches ist es, dass alle beschriebenen Mikrohabitate direkt oder unweit der eigenen Haustür zu finden sind.

In ihrem Buch „Im Schatten von Giganten“ lädt Jasmin Schreiber dazu ein, in der Natur die Lebensräume von kleinsten Organismen zu suchen und zu finden. Ihre Fotos unterstützen ihre Aufforderung. Genaues Hinschauen führt dazu, eine Welt voller Vielfalt und im ständigen Wandel zu entdecken, die vielen bisher verborgen blieb. Gerne vergebe ich eine Kaufempfehlung.

Samstag, 2. August 2025

Rezension: Durch das Raue zu den Sternen von Christopher Kloeble


Durch das Raue zu den Sternen
Autor: Christopher Kloeble
Hardcover: 240 Seiten
Erschienen am 12. Juli 2025
Verlag: Klett-Cotta
Link zur Buchseite des Verlags

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Vor acht Monaten ist die Mutter von Arkadia Fink, genannt Moll, kurz weggegangen. Moll wartet seither auf ihre Rückkehr und kann es gar nicht ertragen, wenn andere Leute Sätze mit „Deine Mutter ist“ beginnen. Da kann es sogar vorkommen, dass sie ihrem Deutschlehrer auf die Nase haut. Daraufhin in einem leeren Klassenzimmer abgesetzt hört sie zufällig ein Vorsingen für den Knabenchor mit an und beschließt, selbst Mitglied zu werden. Wenn ihr Auftritt dann im TV übertragen wird kommt ihre Mutter bestimmt zurück. Von der Rückmeldung, dass sie als Mädchen in einem Knabenchor nichts verloren hat, will sie nichts wissen. Sie ist wild entschlossen, aufgenommen zu werden.

Der Roman ist aus der Ich-Perspektive geschrieben und nimmt seine Leser:innen mit in das Leben von Arkadia, die zu Beginn des Romans dreizehn Jahre alt ist. Sie berichtet davon, dass sie auf die Rückkehr ihrer Mutter wartet und ihr Vater seit ihrem Weggang oft traurig ist. Sie bleibt gerne für sich, hört klassische Musik und telefoniert jeden Abend mit ihrer besten Freundin Bernhardina im Seniorendomizil. Selbst als sie ihren Lehrer schlägt, reagiert man darauf mit Nachsicht. Als Leserin hatte ich schnell eine Vermutung bezüglich ihrer Mutter, doch Arkadia verbietet sich jeden Gedanken in diese Richtung. Mit der Aufnahme in den Knabenchor hat sie schon bald ein Ziel, dass sie mit großer Hartnäckigkeit verfolgt.

Die grundsätzliche Frage, ob ein Mädchen in einem Knabenchor singen darf, klingt zunächst skurril. Doch wer online sucht wird stellt schnell feststellen, dass es dazu vor nicht allzu langer Zeit eine Debatte gab. Ich habe Arkadias Anstrengungen, aufgenommen zu werden, mit einer Mischung aus Bewunderung im Hinblick auf ihre Anstrengungen und Skepsis, ob dies wirklich der richtige Weg für sie ist, gelesen. Der Autor hat selbst in einem Knabenchor gesungen und lässt seine Erfahrungen einfließen, welche die Licht- und Schattenseiten zeigen. 

Mich hat die Art und Weise, wie in dieser Geschichte das Thema Trauerbewältigung verarbeitet wird, berührt. Die Grundstimmung ist melancholisch, aber dennoch hoffnungsvoll. Es gibt Szenen, die mich betroffen machten und andere, die mich zum schmunzeln brachten. Etwas irritiert hat mich, dass Arkadias Gewaltausbrüche kaum Konsequenzen haben. Es wird auch nicht weiter darauf eingegangen, dass sie in ihren Augen nichts Verwerfliches sind, weil sie ähnliches vorgelebt bekommen hat. Insgesamt kann ich „Durch das Raue zu den Sternen“ an alle Literaturbegeisterten weiterempfehlen, die Lust auf einen ergreifenden Roman haben, in dem die Musik das tragende Thema ist.

Freitag, 1. August 2025

Rezension: Onigiri von Yuko Kuhn


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Onigiri
Autorin: Yuko Kuhn
Erscheinungsdatum: 22.07.2025
Verlag: Hanser Berlin (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783446283114
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In ihrem Debütroman „Onigiri“ (dt: Reisbällchen nach japanischem Rezept) erzählt Yuko Kuhn die fiktive Geschichte von Aki und ihrer Familie. Aki ist um die vierzig, verheiratet und Mutter von drei Kindern. Ihr Vater ist Deutscher, ihre Mutter Keiko wurde in Japan geboren und ist dort aufgewachsen. Keiko vergisst zunehmend Dinge, weswegen sie seit geraumer Zeit in einem Wohnstift lebt. Die Nachricht vom Tod ihrer über hundert Jahre alten Großmutter in Japan erreicht Aki spät, weil der Kontakt zur mütterlichen Verwandtschaft inzwischen abgebrochen ist. Doch Aki hat Fragen. Zwar war sie einige Male in der Heimat ihrer Mutter und kennt die Umstände, unter denen diese einst als Lehrerin nach Deutschland gekommen ist. Dennoch versteht sie nicht ganz, wieso Keiko so ist wie sie ist. Sie schlägt ihr eine mehrtägige Reise zum Bruder nach Kobe vor auf der sie sie begleiten möchte.

Der Roman besteht zu einem großen Teil aus Erinnerungen von Aki. Sie schildert Szenen aus ihrer Kindheit und Jugend, die sich nicht nur in ihrem Elternhaus abspielen, sondern auch im Haus der Großmutter in Japan und bei den deutschen Großeltern. Die Liebesgeschichte ihrer Eltern findet ebenfalls ihren Platz, soweit Keiko ihr davon erzählt hat. Die Ehe scheiterte nach einigen Jahren und Aki blieb bei ihrer Mutter. Aki erinnert sich auch an die Schilderungen ihrer Eltern über die eigene Jugendzeit.

Feinsinnig arbeitet Yuko Kuhn aus dem Mosaik dieser Rückblicke kulturelle Unterschiede zwischen Deutschen und Japanern heraus. Auch ihre Wurzeln liegen in Japan, wodurch sie eigene Erfahrungen einbringen kann. Die Verwendung von japanischen Begriffen, von denen die meisten in einem Glossar am Buchende übersetzt werden, tragen zu einer authentische Atmosphäre bei. Zudem wird deutlich, welche hohen Erwartungen ein Elternhaus an ein Kind stellen kann und welche inneren Konflikte und Herausforderungen dadurch bei der persönlichen Zukunftsgestaltung möglich sind..

Die Autorin zeigt verschiedene Ausdrucksformen von Liebe, die sich nicht immer in Gesten und Worten äußern. Dadurch wirkt der Roman stellenweise zurückhaltend, aber gerade darin liegt seine Tiefe. Auf ihrer gemeinsamen Reise nach Japan finden Keiko und Aki eine besondere Verbindung zueinander.

Das Debüt „Onigiri“ von Yuko Kuhn erfordert aufmerksames Lesen, denn Akis Erinnerungen sind nicht chronologisch geordnet, sondern setzen sich wie Puzzlestücke zum größeren Bild zusammen. Wer sich darauf einlässt, wird mit einer berührenden Geschichte belohnt, die sich zwischen zwei Kulturen bewegt und die Welten schildert, in denen Aki lebt: ihre eigene, die ihrer Mutter und die gegensätzliche der beiden Großelternpaare. Sehr gerne vergebe ich eine Leseempfehlung für diesen interessanten, einfühlsam geschriebenen Roman. 

Samstag, 26. Juli 2025

Rezension: Die Meerjungfrauen von Aberdeen von Ben Aaronovitch


Die Meerjungfrauen von Aberdeen
Autor: Ben Aaronovitch
Übersetzerin: Christine Blum
Broschiert: 416 Seiten
Erschienen am 10. Juli 2025
Verlag: dtv
Link zur Buchseite des Verlags

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In Aberdeen scheint eine mysteriöse Großkatze unterwegs zu sein, die Schafe reißt. Diese Nachricht veranlasst Peter Grant, gemeinsam mit Nightingale, Abigail und Abdul anzureisen, um auf die Jagd zu gehen. Mit von der Partie sind außerdem Peters Partnerin Beverley, seine Zwillingstöchter, seine Eltern und die Jazztruppe seines Vaters – allesamt in Urlaubsstimmung. Während ein Teil der Truppe sich bald auf Pumajagd befindet, wird Peter ins Leichenschauhaus gerufen. Dort liegt ein Mann mit Kiemen, der kurz vor seinem Tod einem Betrunkenen alle Kleider geklaut hat. Schon bald laufen die Ermittlungen auf Hochtouren und führen Peter zu Wesen aus dem Meer und aus anderen Dimensionen.

Nach zwei schmaleren Story-Büchern und drei Jahren ist endlich ein neuer Fall für Peter Grant erschienen! Meine Erinnerung an die vorherigen Bände ist schon etwas verblasst, was aber nicht so schlimm war, da der neue Fall nicht in London spielt, sondern alle wichtigen Charaktere nach Aberdeen reisen. In der Küstenstadt ist die Magie eng mit dem Meer verwoben, wodurch ich wieder neue Aspekte der magischen Welt kennenlernte.

Beim vorherigen Roman habe ich kritisiert, dass Abigail kaum in Erscheinung tritt, da ich ein großer Fan von ihr bin. Diesmal kam ich in dieser Hinsicht voll auf meine Kosten. Es gibt zwei Handlungsstränge, die abwechselnd erzählt werden und später miteinander verbunden werden. Peter ermittelt in einem Mordfall, während sich Abigail auf Großkatzenjagd befindet. Auch die Füchsin Indigo durfte mit und nimmt Kontakt zu den ansässigen Füchsen auf, sodass es viel unterhaltsamen Fuchscontent gibt. 

Wer die Bücher aus der Welt von Peter Grant mag, für den ist „Die Meerjungfrauen von Aberdeen“ eine gelungene Ergänzung, in der alles vorhanden ist, was das Fanherz begehrt: Ein spannender Mordfall, sympathische Fae, wilder abstruser Sch* und echte Bösewichte, denen das Handwerk gelegt werden muss. Mein einziger Kritikpunkt ist, dass es seit dem Abschluss der Story rund um den Gesichtslosen keine richtige übergreifende Handlung mehr gibt und sich ein Fall lose an den nächsten reiht – mal dünn als Story, mal dick als Roman. Ich bleibe der Reihe treu und freue mich schon auf weitere Abenteuer!


Mittwoch, 23. Juli 2025

Rezension: Wohin du auch gehst von Christina Fonthes

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Wohin du auch gehst
Autorin: Christina Fonthes
Übersetzerin aus dem Englischen: Michaela Grabinger
Erscheinungsdatum: 23.07.2025
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783257073553
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In ihrem eindrucksvollen Debütroman „Wohin du auch gehst“ erzählt die in Kinshasa geborene und heute in London lebende Autorin Christina Fontes die bewegende Geschichte von Bijoux und ihrer Tantine Mireille, die als Kind Mira gerufen wurde. Zugleich schließt sie die bewegte Vergangenheit des afrikanischen Staates Kongo mit ein. Die Kapitel wechseln zwischen den beiden Protagonistinnen, wobei Bijoux aus der Ich-Perspektive erzählt und die Geschehnisse rund um Mireille von einem allwissenden Erzähler beschrieben werden.

Mira ist neun Jahre alt, als ihr Vater 1974 beruflich aufsteigt und die Familie in ein deutlich größeres Haus in einen anderen Stadtteil von Kinshasa umzieht. Wenig später sieht sie auf der Heimfahrt nach einem Restaurantbesuch eine Szene am Straßenrand, bei der eine Frau für gleichgeschlechtliche Liebe grausam bestraft wird. Sie wird sie nie wieder loslassen und ihr weiteres Leben prägen.

Dreißig Jahre später lebt Mira in einer Sozialsiedlung in London als Diakonin einer evangelikalen Kirche. Vor nunmehr zwölf Jahren wurde Bijoux von Miras Schwester Eugenie, einer verheirateten Ärztin, nach London gebracht, um dort bei der ihr bisher unbekannten Tantine Mireille zu wohnen. Inzwischen arbeitet Bijoux als Angestellte in einer Anwaltskanzlei gefunden und ist verliebt in eine Frau, die sich von ihr wünscht, gemeinsam mit ihr nach New York zu ziehen. Doch Mireille und einigen Angehörigen der Kirche erwarten von ihr, dass sie den ebenfalls aus Kongo stammenden Fabrice heiratet.

Bijoux steht an einem Scheideweg in ihrem Leben. Sie ist geprägt von ihren afrikanischen Wurzeln. Im Kongo gelten patriarchale Familienstrukturen. Trotzdem hat sie sich schon oft nach Kinshasa zurückgewünscht. Demgegenüber erlebt sie in London eine liberalere und aufgeschlossenere Gesellschaft. Die Religiosität ihrer Tantine setzt ihr Grenzen, aber die kirchliche Gemeinschaft gibt ihr gleichzeitig Zugehörigkeit und Halt. Inmitten der widersprüchlichen Einflüsse stellt Bijoux sich Fragen nach der Gestaltung ihrer Zukunft und mit wem sie sie gemeinsam verbringen möchte. Zwischen der Loyalität gegenüber ihrer Familie und persönlicher Freiheit beginnt sie nach einem Weg zu suchen, der ihr gerecht wird und von anderen respektiert wird. 

Während ihres Aufenthalts in London erfährt Bijoux nur wenig über die Vergangenheit ihrer Tantine. Erst als die Ereignisse sich zum Ende hin zuspitzen, eröffnet sich für die junge Protagonistin ein tieferes Verständnis für Mireilles Handlungen und Ansichten, ermöglicht durch Einblicke in deren Kindheit und Jugend in Kinshasa, die ich als Leserin mit wachsender Faszination über die Kapitel hinweg verfolgen konnte. Sie trägt über viele Jahre hinweg ein Geheimnis mit sich, dass Christina Fonthes in ihrem Roman geschickt zu verbergen versteht. Es gelingt der Autorin sehr gut, kulturelle Unterschiede zwischen kongolesischer und britischer Mentalität herauszuarbeiten.

Der Titel des Romans „Wohin du auch gehst“ von Christina Fonthes verweist auf das Versprechens stets einander zu folgen, dass sich die Protagonistin Bijoux und ihre Partnerin geben. Ob ihnen dies gelingt, erfährt der Lesende nach einer Achterbahn der Gefühle. Liebe, Vergeltung, Scham, Angst und Verlust sind nur einige der Emotionen, die die Autorin in ihrer berührenden Geschichte verarbeitet hat. Die Handlung ist vielschichtig mit unerwarteten Wendungen und fesselnd bis zum Schluss. Sehr gerne vergebe ich eine uneingeschränkte Leseempfehlung.



Rezension: Himmel ohne Ende von Julia Engelmann

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Himmel ohne Ende
Autorin: Julia Engelmann
Erscheinungsdatum: 23.07.2025
rezensierte Buchausgabe: Leseexemplar
ISBN: 9783257073232

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Im Roman „Himmel ohne Ende“ von Julia Engelmann dreht sich alles um Freunde und Freundschaften. Die Handlung spielt Mitte der 2000er Jahre. Im Fokus steht die fünfzehnjährige Ich-Erzählerin Charlotte, die von allen nur Charlie genannt wird. Sie ist das einzige Kind ihrer alleinerziehenden Mutter, mit der sie zusammenlebt. Charlies Vater hat seine Familie vor einigen Jahren verlassen und dadurch eine gravierende Lücke hinterlassen. Gerlade erlebt Charlie einen weiteren schmerzlichen Einschnitt, denn ihre beste Freundin hat sich von ihr abgewendet und sich mit einer Klassenkameradin angefreundet.

Charlie spürt selbst, dass sie sich verändert. Sie empfindet sich als zu still und findet ihr Verhalten im Vergleich zu Gleichaltrigen oft seltsam. In ihrem Umfeld fällt auf. Dass sie eigentlich nie lacht. Gedanken, die sie selbst als unsinnig erkennt, kreisen unaufhörlich in ihrem Kopf und lassen sich nicht verdrängen. Sie betrachtet ihr Leben häufig wie von außen und stellt sich grundlegende Fragen: Warum bin ich so, wie ich bin? Wie kann ich zu der werden, die ich sein möchte?

Dann geschehen kurz nacheinander Unerwartetes: Ihre Mutter lernt einen neuen Lebenspartner kennen und zu Beginn des neuen Schuljahrs nach den Sommerferien bekommt die Klasse den neuen Mitschüler Pommes, der eigentlich Kornelius heißt. In Gesprächen mit ihm erkennt Charlie, dass er ihre Gefühle erstaunlich gut nachempfinden kann. Mit ihm findet sie jemanden, mit dem sie offen über ihre Wünsche, Ängste und Sorgen reden kann. Pommes birgt ein Geheimnis, dass teilweise erklärt, warum er Charlie so gut versteht. Trotz des schnell wachsenden Vertrauens zwischen ihnen ist ihre Freundschaft nicht frei von Konflikten. Doch gerade durch diese Höhen und Tiefen beginnt Charlie sich selbst besser zu verstehen und emotional zu wachsen.

Julia Engelmann hat das Alter ihrer Protagonistin bewusst gewählt, denn sie begleitet Charlie einfühlsam auf dem Weg dahin, ihre Gefühle in Worte zu fassen und sich mitzuteilen, was ein wichtiger Schritt zur Selbstfindung ist. Im Titel spiegelt sich die Unendlichkeit der Gedankenwelt wider, mit denen Jugendliche sich beschäftigen, wenn sie ihren Platz im Leben suchen. Vielfach blitzt die schöne poetische Sprache auf, für die die Autorin bereits in ihren Lyrikbänden und Poetry Slam Beiträgen bekannt geworden ist.

„Himmel ohne Ende“ von Julia Engelmann ist ein feinfühlig erzählter Coming-of-Age-Roman, der sowohl Jugendliche als auch Erwachsene anspricht. Junge Lesende finden darin Parallelen zu ihrem eigenen Leben, während sich Ältere beim Lesen an ihre Jugend zurückerinnern werden. Gerne empfehle ich das Buch weiter.


Dienstag, 22. Juli 2025

Rezension: A Taste of Cornwall: Eine Prise Liebe von Katharina Herzog


A Taste of Cornwall: Eine Prise Liebe
Autorin: Katharina Herzog
Broschiert: 368 Seiten
Erschienen am 15. Juli 2025
Verlag: Rowohlt Polaris
Link zur Buchseite des Verlags

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Sophie Dubois lebt in London und hat ehrgeizige Ziele: Als eine der bekanntesten Restaurantkritikerinnen möchte sie eine eigene Fernsehshow übernehmen. Am Tag der Restauranteröffnung des Models Annabelle Scott überstürzen sich bei ihr privat die Ereignisse. Emotional aufgeladen streitet sie mit der Gastgeberin und schreibt danach einen Verriss, der einen Shitstorm gegen ihre Person auslöst. Daraufhin schlägt ihr Chef ihr einen längeren Urlaub vor, in welchem sie beweisen soll, was sie im Streit behauptet hat: Dass sie selbst ein Spitzenrestaurant eröffnen kann. In dem kleinen Hafenort Port Haven in Cornwall übernimmt sie das Smuggler's Inn, dessen verstorbener Besitzer ganz besondere Auflagen hinterlassen hat. Sie darf nicht modernisieren und muss zudem das gesamte Personal übernehmen. Zähneknirschend fügt sich Sophie in ihr Schicksal. Wird sie dem Pub zu neuem Glanz verhelfen können?

Ich habe die Reihe rund um das kleine Bücherdorf von Katharina Herzog sehr gerne gelesen und war gespannt, in dieser neuen Reihe literarisch nach Cornwall zu reisen. Bevor es an die Küste geht lernte ich Sophie zunächst in ihrer bisherigen Heimat in London kennen. Dort nistet sich ihre Mutter bei ihr ein, nachdem sie aus ihrer Seniorenresidenz geflogen ist und ihre Tochter hat Schwierigkeiten in der Schule. Sophies emotionaler Stress entlädt sich in einem Verriss von Annabelle Scotts Restaurant und dem darauffolgenden Shitstorm. Aus meiner Sicht war der Verriss nicht so schlimm geschrieben, dass es die darauf folgenden Reaktionen rechtfertigt hätte – Restaurantkritiker dürfen sich doch auch mal negativ äußern?! Aber es ist schließlich das Mittel zum Zweck, um Sophie nach rund 80 Seiten nach Cornwall zu bringen.

In Port Haven erwarteten mich als Leserin eine bunte Mischung an Charakteren, die alle ihre Eigenheiten haben, die ich aber bald in Herz geschlossen habe. Sophie stößt mit ihren Ideen zunächst auf Ablehnung und ich war neugierig, ob sie das Ruder herumreißen kann. Immer wieder gibt es Zeitsprünge von einigen Wochen, durch welche die Geschichte in zügigem Tempo vorankommt. Ich hatte aber häufiger das Gefühl, dass große Probleme zu einfach und schnell gelöst wurden. Es gibt auch eine Liebesgeschichte, die allerdings recht wenig Platz einnimmt. Dafür erhalten auch Sophies Mutter und Tochter, die mit nach Cornwall gereist sind, Raum für ihre eigenen Erlebnisse vor Ort. Sophie macht charakterlich eine große Entwicklung durch, die zu verfolgen ich schön fand. Wer Lust auf einen Wohlfühlroman mit kulinarischen Thema an der Küste Cornwalls hat, für den ist dieser Reihenauftakt das Richtige!

Montag, 21. Juli 2025

Rezension: Der Krabbenfischer von Benjamin Wood

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Der Krabbenfischer
Autor: Benjamin Wood
Übersetzer aus dem Englischen: Werner Löcher-Lawrence
Erscheinungstermin: 15.07.2025
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Leseband
ISBN: 97837558ßß613
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Benjamin Woods nahm mich als Leserin in seinem Roman „Der Krabbenfischer“ mit zurück in die 1960er Jahre. Thomas Flett ist sein Protagonist und gleichzeitig die Titelfigur der Geschichte. Er ist zwanzig Jahre alt, lebt in einer kleinen englischen Stadt am Meer und hat das Handwerk des Krabbenfischens bereits als Schüler von seinem inzwischen verstorbenen Großvater gelernt. Mit Pferd und Wagen zieht er an jedem Morgen, manchmal sogar ein zweites Mal am Tag, bei Niedrigwasser Netze durchs Watt, um Krabben zu fangen. Die körperlich anstrengende Tätigkeit zehrt an ihm, Es ist eine mühselige Arbeit, die gerade genug einbringt, um sich und seiner Mutter das Überleben zu sichern.

Während andere Krabbenfänger längst motorisiert arbeiten, fehlt Thomas das Geld für moderne Technik. Die Motivation für seine Tätigkeit nimmt zusehends ab. Bisher hat er sich nicht getraut, einer jungen Frau Avancen zu machen, obwohl er sich zu der Schwester eines Freunds hingezogen fühlt.  

Seit einiger Zeit hat ein gesteigertes Interesse daran entwickelt, selbst Musik zu machen. Doch er glaubt nicht daran, dass sich sein Hobby dafür geeignet, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Vor seiner Mutter hält er sein musikalisches Interesse geheim. Seinen Vater hat er nie kennengelernt. In ihrer Gegenwart traut er sich nicht aufzubegehren. In all den Jahren hat sie ihm den Haushalt geführt, Regeln gesetzt und ihm Antrieb gegeben. Ohne zu hinterfragen, hat er sich ihrem Willen stets gefügt.

Das Leben von Thomas scheint in festgefahrenen Bahnen zu verlaufen, bis eines Tages ein erfahrener Regisseur bei ihm zu Hause vorspricht, um seine Expertise in Bezug auf Kenntnisse im Watt einzuholen und dafür eine hohe Bezahlung bietet. Für ihn öffnet sich dadurch eine Pforte in eine Welt, von der er bisher nicht wusste, welche Möglichkeiten sie für ihn bereithält. Benjamin Wood gelingt es eindrucksvoll, die innere Zerrissenheit seines Protagonisten und dessen Loyalität gegenüber seiner Familie herauszuarbeiten. Seine detailreichen Beschreibungen der Natur lassen das Meer und den Strand im Kopf entstehen und man glaubt, die Gerüche einzuatmen und Geräusche zu hören. Von Beginn an hofft man für Thomas, dass er es schafft, aus der Enge seines Alltags auszubrechen und sich selbst zu verwirklichen.

„Der Krabbenfischer“ von Benjamin Wood ist eine leise, aber tief berührende Geschichte über zu ergreifende Chancen im Leben, die der Autor ruhig, aber nie langweilig mit einer Spur magischen Realismus erzählt und am Schluss mit einer unerwarteten Wendung überrascht. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.

Dienstag, 15. Juli 2025

Rezension: Furye von Kat Eryn Rubik

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Furye
Autorin: Kat Eryn Rubik
Erscheinungsdatum: 15.07.2025
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband
ISBN: 9783832181949
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Die Protagonistin des Debütromans „Furye“ von Kat Eryn Rubik ist 38 Jahre alt, erfolgreiche Managerin in der von Männern dominierten Neoklassikbranche, Single, kinderlos und kurz vor dem Burnout. Ihren realen Namen erfährt man nicht. Ebenso bleibt der Ort unbenannt, an dem sie lebt. Nachdem ein Herzenswunsch von ihr für immer zerplatzt zu sein scheint, begibt sie sich auf eine Reise in den Süden ans Meer. Die Schriftart lässt den Lesenden erkennen, ob die Handlung in der Gegenwart oder der Vergangenheit spielt.

Das Ziel der Hauptfigur ist die Stadt, in der sie aufgewachsen ist. Dort begibt sie sich auf die Spuren ihrer Vergangenheit. Vor etwa zwanzig Jahren hat sie alles zurückgelassen, was ihr in diesem letzten heißen Sommer vor Ort wichtig gewesen ist. Damals hat sie sich mit dem beiden mit ihr befreundeten Mitschülerinnen „Die Furien“ genannt, weil sie entsprechend der Vorbilder aus der griechischen Mythologie Rache üben wollten an denen, die es ihrer Meinung nach verdient haben. Von diesem Moment an bezeichnet sie sich mit der Kurzform des Namens ihrer Heldin als Alec. Ihre Freundinnen nennen sich Tess und Meg. Sie kommen  aus gut betuchtem Hause, haben aber gestörte Verhältnisse zu ihren Eltern.

Alec ist die Tochter von Migranten, deren akademische Qualifikationen im neuen Heimatland keine Anerkennung erhalten. Beim Lesen wird die soziale Ungleichheit immer wieder deutlich. Dennoch haben die Freundinnen ein offenes Verhältnis zueinander gefunden, bei dem sie die verschiedenen Probleme im jeweiligen im Elternhaus nicht verschweigen, sondern diskutieren und dadurch einander helfen, indem sie füreinander da sind. Alec erhält besonders von Meg Unterstützung. Von ihr kann sie sich auch zu bestimmten Anlassen, Kleidung borgen, leistet ihr im Gegenzug aber manch einen Gefallen. Während Tess als ruhender Pol erscheint, nimmt Meg kein Blatt vor den Mund, ist impulsiv und echauffiert sich für Gerechtigkeit auf vielen Ebenen. Wie sich letztlich zeigt, macht Geld alleine allerdings nicht immer glücklich.

Zu Alecs intensivsten Erinnerungen gehört jedoch nicht nur die gemeinsam erlebte Zeit mit Meg und Tess, sondern auch ihre Beziehung zu dem von ihr umschwärmten, ein Jahr älteren Romain. Es war für mich als Leserin schwierig einzuordnen, ob er ehrlich an Alec interessiert ist oder sie nur eine nette Abwechslung für ihn ist. Romain wirkt charmant, empathisch und zugewandt, offenbart jedoch im späteren Verlauf Seiten, die nachdenklich stimmen.

Alec hat in ihrer Jugend eine folgenreiche Entscheidung getroffen. Es bleibt nicht das einzige Geheimnis im Roman. Nicht nur das gut verborgene Unausgesprochene lässt eine hintergründige Spannung aufkommen. Es ist ebenso faszinierend, Alec auf den Spuren ihrer Vergangenheit zu folgen und zu erfahren, welche ihrer früheren Bekanntschaften noch in ihrer alten Heimat am Meer leben und ob die Gegend noch so ist, wie sie sie in Erinnerung hats. 

„Furye“ ist ein eindrucksvolles Debüt von Kat Eryn Rubik über einen länger zurückliegenden, aber prägenden Sommer voller schmerzlicher wie auch schöner Erfahrungen, deren Nachwirkungen die Protagonistin bis in die Gegenwart begleiten. Es handelt von Herkunft, Identitätssuche, Erwartungen und die Frage, inwieweit der Lebensweg von äußeren Umständen und eigenen Überzeugungen bestimmt wird. Die dramatischen Ereignisse sind berührend und bleiben im Gedächtnis. Sehr gerne empfehle ich dieses bewegende Buch weiter.

Freitag, 11. Juli 2025

Rezension: Bury Our Bones in the Midnight Soil von V.E. Schwab


Bury Our Bones in the Midnight Soil
Autorin: V.E. Schwab
Übersetzerinnen: Petra Huber und Sara Riffel
Hardcover: 688 Seiten
Erschienen am 25. Juni 2025
Verlag: FISCHER Tor
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Im Jahr 1529 in Spanien heiratet María einen Vizconde, um ihrer kleinen Stadt zu entkommen. Doch sie muss feststellen, dass sie nur einen Käfig gegen einen anderen getauscht hat. Als sie die geheimnisvolle Witwe Sabine trifft, die ihr die Chance bietet, auszubrechen, ergreift sie diese ohne zu zögern. Rund dreihundert Jahre später tut Charlotte in London dasselbe. Keine Wahl hat hingegen Alice, die 2019 in Boston nach einem One Night Stand aufwacht und feststellt, dass ihr Herz nicht mehr schlägt und sie sich nur noch von Blut ernähren kann.

Mit der Villains-Dilogie und dem Roman über Addie LaRue hat die Autorin bereits bewiesen, dass sie spannende Geschichten über (fast) unsterbliche Charaktere schreiben kann. In ihrem neuen Roman stehen nun direkt drei starke Frauen im Mittelpunkt, die in verschiedenen Jahrhunderten geboren sind. Ihre Schicksale sind dennoch eng miteinander verbunden, denn sie alle sind gestorben und existieren als Blutsaugerinnen weiter. Oder um es poetischer entsprechend des Titels zu formulieren: Ihre Knochen wurden in die Mitternachtserde gepflanzt.

Ich lernte alle drei Frauen zunächst kurz kennen, bevor ich tiefer in Marías Geschichte eintauchte. Die Autorin nimmt sich Zeit, zu schildern, wie sie zur Vampirin wurde und was sie aus diesem neuen Dasein gemacht hat. Dazwischen springt der Roman immer wieder zu Alice, die versucht herauszufinden, was mit ihr nicht stimmt. Das fehlende Bindeglied ist Lottie, über die erst ich erst später im Roman mehr erfahren sollte. Alle drei Frauen besitzen eine innere Stärke und den Willen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Auch ihre Liebe zu Frauen eint sie. Gleichzeitig sind ihre Vorstellungen, wie man ein Leben als Vampirin gestalten sollte, ganz verschieden. 

Bald war ich mittendrin in der Jahrhunderte überspannenden Geschichte, in der ein Puzzlestück nach dem anderen an seinen Platz fällt und enthüllt, was die drei Frauen verbindet. Für meinen Geschmack hätte Marías Geschichte etwas straffer erzählt werden dürfen, während es mir bei Lottie zu schnell ging. Außerdem tat ich mich schwer damit, Lotties Entscheidungen nachzuvollziehen. Dank des packenden Schreibstils flog ich durch die Seiten. Zum Ende hin gibt es einen dramatischen Showdown, der das Buch gelungen abrundet. Fans von Vampirromanen sollten sich diesen queeren, emotionalen, blutigen und spannenden Roman nicht entgehen lassen! 

Sonntag, 29. Juni 2025

Rezension: Die Rettung von Charlotte McConaghy


Die Rettung
Autorin: Charlotte McConaghy
Übersetzer: Jan Schönherr
Hardcover: 448 Seiten
Erschienen am 28. Mai 2025
Verlag: S. FISCHER
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Die kleine, unwirtliche Insel Shearwater liegt zwischen Australien und der Antarktis. Hier lebt nur noch Dominic Salt mit seinen drei Kindern. Die Forschungsbasis wurde aufgegeben, weil die Insel bald im Meer versinken wird. Auch die Familie soll bald mit einem Schiff abgeholt werden, im Gepäck die wichtigsten Samen aus dem riesigen Saatgutbunker der Insel, der mit allem anderen aufgegeben wird. Doch dann wird eine schwer verletzte Frau angespült. Da es kein anderes nahe liegendes Ziel gibt wollte sie wohl zur Insel – doch wieso? Dazu schweigt sie sich aus und ist gleichzeitig fest davon überzeugt, dass Dominic Salt etwas zu verbergen hat. Der wiederum will herausfinden, was sie hergetrieben hat.

Der Roman beginnt mit einem Sturm, durch den Rowan auf Shearwater angespült und von Fen, der Tochter von Dominic Salt, gefunden wird. Die ganze Familie kümmert sich aufopferungsvoll darum, Rowan zu retten, ohne zu wissen, was sie überhaupt bei ihnen sucht. Durch die verschiedenen Perspektiven, aus denen die Geschichte erzählt wird, erhält man einen guten Einblick in die Emotionen der Charaktere. Ihre Geheimnisse geben sie zunächst nicht preis. Es wird jedoch deutlich, dass in der Vergangenheit von allen Charakteren Dinge vorgefallen sind, die ihre Schatten bis in die Gegenwart werfen und ihr Verhalten sowie ihre Entscheidungen maßgeblich prägen. 

Aus der anfänglichen Skepsis gegenüber Rowan entwickelt sich bald ein vorsichtiges Zutrauen. Ich war gespannt, wohin sich das ganze entwickeln wird. Das Leben auf der abgelegenen Insel, wo die Natur unerbittlich ist und gleichzeitig in seiner Rauheit faszinierend sein kann, bildet eine gelungene Kulisse für das Geschehen und sorgt für die richtige Atmosphäre. Schmerzhafte Wahrheiten drängen schließlich an die Oberfläche und ich tauchte gemeinsam mit den inzwischen liebgewonnenen Figuren in die Erinnerungen an ihre traumatischen Erlebnisse ein. Die Lage spitzt sich auf dramatische Weise immer weiter zu, sodass es bis zum Schluss emotional und spannend bleibt. „Die Rettung“ legt seinen Fokus auf das Beziehungsgeflecht der Figuren vor einer dystopischen Kulisse, die daran erinnert, wie verheerend die Auswirkungen des Klimawandels sein können. Mich hat die Lektüre gefesselt und berührt, sodass ich das Buch sehr gerne weiterempfehle.

Freitag, 27. Juni 2025

Rezension: Glück ist ganz nach meinem Geschmack von Claudia Schaumann


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Glück ist ganz nach meinem Geschmack
Autorin: Claudia Schaumann
Erscheinungsdatum: 19.06.2025
rezensierte Buchausgabe: Taschenbuch mit gestalteten Klappen
ISBN: 9783442495993
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Entsprechend des Romantitels „Glück ist ganz nach meinem Geschmack“ wünscht sich Sarah-Marie Lautenschläger, von ihren FreundInnen liebevoll Sam genannt, sich ein gerne mit ihrem Leben zufrieden sein. Doch in der Geschichte der Autorin Claudia Schaumann kämpft die Protagonisten jeden Tag mit den Herausforderungen ihres Alltags als Grundschullehrerin. Erschwert wird der ohnehin anstrengende Schuldienst durch einen jungen, ehrgeizigen und attraktiven neuen Rektor, der den Unterricht grundlegend verändern will. Sams Eltern haben kein Verständnis dafür, dass sie ihren Beruf aufgeben und stattdessen mit Backen ihren Lebensunterhalt verdienen möchte, denn schließlich ist sie zwar Single, trägt aber auch die Verantwortung für ihre sechsjährige Tochter.

Bei einem Klassentreffen, 25 Jahre nach ihrem Abitur, begegnet Sam ihrem früheren Schwarm Max wieder, der ihre Gefühle nun zu erwidern scheint. In Rückblenden ruft Sam sich die Zeit rund um ihren Schulabschluss ins Gedächtnis, die auch bei mir Erinnerungen weckte. Sams erste Verliebtheit und ihre Unsicherheit im Umgang mit Gleichaltrigen werden dabei sehr einfühlsam geschildert.

Sam ist 43 Jahre alt und befindet sich an einem Wendepunkt, der geprägt ist von Selbstzweifeln. Sie spürt, dass sie noch jung genug ist, etwas in ihrem Leben zu verändern, statt weiter einem Beruf nachzugehen, den sie nicht mit Überzeugung ausübt. Die Autorin schafft Figuren wie die von Sam, mit denen sich die Lesenden gut identifizieren können. Gemeinsam mit ihren Freundinnen Ava und Charlotte sucht sie nach einer Lösung für ihr Problem, sich zwischen sicherer Verbeamtung und risikobehafteter, aber erfüllender Selbständigkeit zu entscheiden. In ihrem Privatleben lebt sie bisher ihre Unabhängigkeit von einer Beziehung aus. Dennoch kommt immer wieder zum Ausdruck, dass sie sich eine feste Partnerschaft wünscht, obwohl sie bisher häufig auf verschiedene Weise enttäuscht wurde. Claudia Schaumann führt den Lesenden über einige emotionale Höhen und Tiefen von Sam. In die Beschreibung des schulischen Alltags der Grundschullehrerin fließen eigene Erfahrungen der Autorin ein und verdeutlichen sowohl die Belastungen des Berufs als auch die erfüllenden Seiten.

Der Roman überzeugt mit unterhaltsamen Situationen und amüsanten Dialogen sowie authentischen Protagonisten, deren Handeln nachvollziehbar ist. Claudia Schaumann gelingt es zu zeigen, dass man die Lebensmitte einiges an Chancen bietet, sein Leben neu auszurichten. Das Ende ruft nach einer Fortsetzung mit Charlotte als Protagonistin. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung. 

 

Mittwoch, 25. Juni 2025

Rezension: Wild wuchern von Katharina Köller


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Wild wuchern
Autorin: Katharina Köller
Erscheinungsdatum: 26.02.2025
Verlag: Penguin (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783328603924
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Johanna und Marie sind die beiden Protagonistinnen im Roman „Wild wuchern“ von Katharina Köller. Ihre Mütter sind Zwillingsschwestern und ihre Lebenswege könnten kaum unterschiedlicher verlaufen. Marie entspricht dem Idealbild ihrer Mutter als braves, blondes Mädchen. Als sie erfährt, dass Johanna fortan in ihre Klasse gehen wird und sie sich um ihre Cousine kümmern soll, beginnt ein Konflikt, dessen Hintergründe lange im Verborgenen bleiben. Sie offenbaren sich mit der Zeit in Rückblicken. Mich fesselte die Geschichte dadurch, dass ich mehr über dieses Familiengeheimnis aus der Vergangenheit erfahren wollte. Der eigentliche Spannungsbogen entsteht jedoch in der Gegenwart, im Moment des Wiedersehens der beiden Frauen.

Am Anfang des Buchs begegnete ich Marie, die offenbar vor etwas flieht. Die Gründe dafür klären sich ebenfalls erst im Laufe der Erzählung, doch zunächst gibt die Autorin kleine Andeutungen. Marie hat sich als Designerin von Schuhen einen Namen gemacht, ist inzwischen aber seit langem arbeitslos. Mit ihrem in der Modebranche erfolgreichen Ehemann ist sie nach Wien zurückgekehrt. Jetzt aber klettert sie einen Berg in Tirol hinauf. Dort lebt Johanna seit ihrer Jugend als Einsiedlerin in einer Berghütte, die früher dem Großvater der beiden Frauen gehört hat. Jahrelang hatten die Cousinen keinen Kontakt, weil ihre Lebensentwürfe sehr verschieden sind.

Katharina Köller gelingt es eindrucksvoll, die beiden konträren Figuren aufeinandertreffen zu lassen. In Gesprächen und durch Handeln zeigt sich Maries Tatkraft und Entschlossenheit. Johanna hingegen, still und naturverbunden, hat im Einklang mit der Umgebung eine feine Sensibilität entwickelt, die nicht nur Tieren zugutekommt. Marie fällt es schwer, sich der wortkargen Johanna zu nähern und sich mit dem Geruch der Ziegen, der überall präsent ist, zu arrangieren. Gerade daraus wird deutlich, wie tief ihre seelische Erschütterung sein muss, um trotz aller Widerstände bei ihrer Cousine bleiben zu dürfen. Trotz des ernsten Hintergrunds verleiht die Autorin der Geschichte immer wieder Leichtigkeit durch amüsante Situationen und schafft dadurch ein Gleichgewicht, welches das Lesen bereichert und zugleicht bewegt.

Der Roman stimmt nachdenklich über die Art und Weise familiärer Prägungen und die Erwartungen, die uns von Kindesbeinen an begleiten. Katharina Köller wirft Fragen danach auf, wie es gelingen kann, dem „Wuchern“ in einem eng gesteckten Rahmen zu entkommen und wie man „wild“ wachsen und Selbstbewusstsein entwickeln kann, ohne dabei Schaden zu nehmen. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.


Mittwoch, 18. Juni 2025

Rezension: Play of Hearts von Juli Dorne


Play of Hearts
Autorin: Juli Dorne
Hardcover: 448 Seiten
Erschienen am 17. April 2025
Verlag: dtv
Link zur Buchseite des Verlags

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Als junges Mädchen begegnet Genevieve im Spiegelkabinett ihrer Großmutter einem Jungen im Spiegel, der ihr einen Tausch vorschlägt: Einen Freund gegen ihr Herz. Seitdem liegt ein Fluch auf ihren Händen: Sie bringen jedem, den sie anfasst, den Tod. Darüber hinaus muss sie als Teil ihrer magiebegabten Familie regelmäßig Seelenbruchstücke von Menschen im Moment ihres Todes einfangen, um weiterleben zu können. Ihre Eltern sehen genau wie die Bewohner ihres Dorfes nur ein Monster in ihr, weshalb sie bei ihrer strengen Großmutter lebt und für das Bestattungsunternehmen ihrer Familie arbeitet. Eines Tages trifft sie im Wald auf den charmanten Arthur, der sie wiedersehen will. Die beiden beginnen, sich täglich zu sehen und entwickeln Gefühle füreinander. Doch als er sie bittet, mit ihr das Dorf zu verlassen, überschlagen sich die Ereignisse. Plötzlich ist Arthur verschwunden und Genevieve Teil eines magischen Zirkus, in dem der mysteriöse Eigenbrötler Rémy ihr Hilfe bei der Suche nach Arthur verspricht, wenn sie im Gegenzug etwas für ihn herausfindet.

Das Buch startet mit einem bedrückenden Prolog, der berichtet, wie Genevieves Hände mit einem Fluch belegt wurden, mit dem sie kurz darauf einen Schulkameraden tötet, der Zeit mit ihr verbringen wollte. Danach springt das Buch zu ihrem achtzehnten Geburtstag. Ich brauchte eine Weile, um mich in der Geschichte zurechtzufinden und zu verstehen, dass ihre ganze Familie auf magische Weise im Dienst des Todes steht und der Fluch nur ein Zusatz ist. Schnell taucht Arthur auf, der sie liebevoll Evie nennt und in den sie sich in kürzester Zeit verliebt. Hier legt die Story ein hohes Tempo vor und mir ging das alles etwas zu schnell. Die Ereignisse überstürzen sich und werfen immer neue Fragen auf, von denen nicht alle in diesem Band beantwortet werden.

Nach Evies Ankunft im Zirkus wird das Tempo reduziert und ich konnte in der magischen Welt, die Julie Dorne geschaffen hat, endlich richtig ankommen. Der Zirkus ist ein faszinierender Ort, und die meisten seiner Mitglieder sind mir schnell ans Herz gewachsen. Doch hier warten auch noch mehr Geheimnisse. Es sind Illusionisten am Werk und bald weiß man nicht mehr sicher, was von dem, was Evie erlebt, Illusion und was Realität ist. Um Arthur zu finden, verbringt sie gezwungenermaßen viel Zeit mit Rémy und stellt fest, dass seine abweisende Art nur eine Fassade ist. Gefühle für ihn will sie nicht zulassen, da sie doch in Arthur verliebt ist. Es gibt im Buch aber so viel mehr Szenen mit Rémy als mit Arthur, dass ich mir irgendwann nicht mehr sicher war, ob dieser vielleicht nur eine Illusion war. Bis zum Schluss bleibt es spannend und ein gemeiner Cliffhanger sorgt dafür, dass ich am liebsten sofort in „Twist of Hearts“ weiterlesen möchte, das im Herbst erscheint. Wer magische Geschichten voller Geheimnisse mag, in denen vieles nicht so ist, wie es zunächst scheint, für den ist „Play of Hearts“ die richtige Wahl!

Dienstag, 17. Juni 2025

Rezension: Der alte Apfelgarten von Sharon Gosling

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Der alte Apfelgarten
Autorin: Sharon Gosling
Übersetzerin: Sibylle Schmidt
Erscheinungsdatum: 17.06.2025
rezensierte Buchausgabe: Taschenbuch mit gestalteten Klappen
ISBN: 978383216720

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Im Roman „Der alte Apfelgarten“ der Britin Sharon Gosling spielt ein verborgener Obsthain eine große Rolle. Er gehört zu einem Gutshof, den Nina Crombie, Mitte 20, geschieden und Mutter eines sechsjährigen Sohns, nach dem unerwarteten Tod ihres Vaters nun allein bewirtschaften muss. Zur Beerdigung reist auch ihre zehn Jahre ältere Schwester Bette an, eine erfolgreiche Londoner Anwältin. Die beiden haben sich nie besonders nahegestanden, doch ihr Vater hat ihnen den Hof gemeinsam hinterlassen. Während Nina sich um den Alltag auf der Farm kümmert, entdeckt Bette beim Sichten der Unterlagen, dass der Hof hoch verschuldet ist. Durch Zufall stoßen sie auf den versteckten Apfelgarten. Beim Obst handelt es sich möglicherweise um eine legendäre Sorte, die sich zur Herstellung von Cidre eignet. Ob das die Rettung für die Farm sein kann?

Die Geschichte bietet von Beginn an ein hohes Potenzial an Konflikten zwischen den Schwestern. Beide haben ihr Elternhaus früh verlassen. Nina kann nicht recht verstehen, warum Bette in all den Jahren kaum je zurückgekehrt ist. Sie selbst hat sich jung verliebt und ist nach schmerzhaften Erfahrungen mit ihrem wenige Monate alten Kind nach Hause zurückgekehrt. Der väterliche Bauernhof ist nicht nur seit fünf Jahren ihr Arbeitsplatz, sondern auch ihr Zufluchtsort. Als Leserin hoffte ich darauf, dass die Geschwister mit der Zeit mehr Verständnis füreinander entwickeln werden, zumal auch über Bettes Aufbruch zum Studium ein ungelüftetes Geheimnis umgibt.

Rund um den verborgenen Apfelhain bindet Sharon Gosling eine faszinierende Geschichte ein, rund um ein altes Kloster aus dem 16. Jahrhundert und eine Adelsfamilie, in die die junge Ophelia Mitte des 19. Jahrhunderts einheiraten musste. Die Autorin vermittelt dabei auf anschauliche Weise Wissen über Apfelanbau und die Herstellung von Cidre. Geschickt gibt sie zwei jungen Männern Rollen, in denen sie den Schwestern beistehen und für romantische Momente, aber auch für zusätzliche Kontroversen sorgen. Die Figuren sind durchweg vielschichtig ausgearbeitet und entwickeln sich glaubwürdig an ihren Herausforderungen weiter.

„Der alte Apfelgarten“ von Sharon Gosling ist eine berührende Geschichte voller unerwarteter Wendungen, verborgener Geheimnissen, zarter Romantik und bewegenden Dramen. Die Handlung wird begleitet von der Suche nach Neuanfängen, sowohl im Beruflichen als auch in zwischenmenschlichen Beziehungen. Ein Roman, den ich uneingeschränkt weiterempfehle.

Montag, 9. Juni 2025

Rezension: Miffy und die Kunst. Eine Einführung für Kinder von Dick Bruna


Miffy und die Kunst. Eine Einführung für Kinder
Autor: Dick Bruna
Hardcover: 64 Seiten
Erschienen am 20. März 2025
Verlag: Midas
Link zur Buchseite des Verlags

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Das Hasenmädchen Miffy erkundet in diesem Buch die Welt der Kunst. Dazu wurden diverse bekannte Kunstwerke aus dem 17. Bis 21. Jahrhundert ausgewählt von Künstlerinnen und Künstlern wie Jan Vermeer, Henri Matisse, Frida Kahlo und Andy Wahol. Jede Doppelseite ist einem Werk gewidmet. Auf der einen Seite ist dieses mit einer kurzen Beschreibung abgebildet. Auf der anderen Seite ist ein Bild von Miffy oder ihren Freunden mit einer aktivierenden Frage, die sich direkt an das Kind richtet. Beim Bild „Harlekin mit Gitarre“ von Pablo Picasso wird zum Beispiel gefragt, ob es die Finger des Musikers mit der Gitarre findet.

Das Buch eignet sich hervorragend dafür, Kindern die Welt der Kunst zugänglich zu machen. Die Auswahl der Werke gefällt mir sehr gut. Es handelt sich nicht nur um Bilder, sondern auch um Skulpturen und Installationen. Auch die kulturellen Hintergründe der Künstlerinnen und Künstler sind divers, sodass man beim Lesen einen Überblick über die Vielfalt erhält, die Kunst bietet. Die Frage, die zu jedem Werk an das Kind gerichtet wird, bietet beim gemeinsamen Anschauen eine Inspiration, um ins Gespräch zu kommen. Die farbenfrohen Bilder von Miffy und ihren Freunden sind ebenfalls kleine Kunstwerke, die Freude machen. Ganz hinten im Buch findet man Infos zu Dick Bruna, dem Schöpfer von Miffy, und seiner Technik, die ich interessant fand. „Miffy und die Kunst“ ist ein gelungenes Bilderbuch, das ich sehr gerne weiterempfehle!


Samstag, 31. Mai 2025

Rezension: Perlen von Sian Hughes

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Perlen
Autorin: Sian Hughes
Übersetzerin aus dem Englischen: Tanja Handels
Erscheinungsdatum: 13.05.2025
rezensierte Buchausgabe: Hardcover in Strukturpapier 
mit Hochprägung, Glanzlack und Leseband
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Vater, Mutter, kleine Hand, dunkle Tage, helle Tage – wie Perlen auf einer Schnur reihen sich die Erinnerungen der Ich-Erzählerin Marianne im Debütroman „Perlen“ der Engländerin Sian Hughes, der für den Bookerpreis 2023 nominiert war. Die Autorin erzählt in feinfühliger Sprache die Geschichte eines Verlusts, der ein Leben lang nachhallt.

Niemals hat die etwa vierzigjährige Protagonistin den Tag vergessen, an dem ihre Mutter die Familie verließ und spurlos verschwand. Lediglich verwischte Spuren am nahen Fluss deuten auf ihren Freitod hin. Seither zieht sich die Frage nach dem ‚Warum‘ durch ihr ganzes Leben. Damals war Marianne acht Jahre alt, ihr kleiner Bruder noch ein Baby. Inzwischen ist sie selbst Mutter einer Tochter. Jährlich kehrt sie zum Totengedenken in ihrem Heimatort zurück.

Die ersten Jahre nach dem Verschwinden der Mutter waren keine einfache Zeit für Marianne. Trotz der Mühe ihres Vaters hat sie ständig die Schule geschwänzt. In England scheint es andere Regeln für den Schulbesuch zu geben, denn folgenschwere Konsequenzen ergeben sich nicht aus ihrem Fehltagen. In der Pubertät rebelliert sie auf ihre Weise durch eine vom Vater nicht gern gesehene Freundschaft. Je älter sie wird, desto mehr beginnt sie zu verstehen, welche ihre Beweggründe ihre Mutter eventuell hatte. Ihre Eindrücke manifestieren sich, als sie ein Geheimnis ihrer Eltern aufdeckt.

Gleich zu Beginn des Romans beobachtet Marianne beim Spielen ihrer Tochter eine auffällige realitätsferne Wahrnehmung, woraufhin sie umgehend professionelle Abklärung einholt. Die psychischen Probleme ihrer Mutter sind rückblickend meist nur zu vermuten, denn die Protagonistin schildert sie als liebevoll, fürsorglich und fröhlich. Jedem Kapitel ist ein englischer Kinderreim vorangestellt, oft düster im Inhalt. Sie sind gleich oder ähnlich denen, die Marianne von ihrer Mutter gelernt hat. Als Kind weiß sie nicht, dass ihre Mutter eine Fassade aufrechthält. Ich hätte mir einen Triggerwarnung und einen Hinweis auf Hilfsmöglichkeiten bei psychischen Störungen im Buch gewünscht.

Einfühlsam beschreibt Sian Hughes in ihrem Debüt „Perlen“ den als Kind erlittenen Verlust der Mutter der inzwischen erwachsenen Protagonistin Marianne. Trotz der immer noch lebendigen Erinnerungen hat sie über Schwierigkeiten und Trauer hinweg es geschafft, sich selbst einige Wünsche im Leben zu erfüllen. Durch die Geschichte zieht sich quer ein Band der Wärme und Zuneigung. Gerne empfehle das Buch weiter.


Donnerstag, 29. Mai 2025

Rezension: Das Echo der Sommer von Elin Anna Labba

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Das Echo der Sommer
Übersetzerin: Hanna Granz
Erscheinungsdatum: 23.04.2025
Verlag: S. Fischer (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783103976779
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Die schwedische Autorin Elin Anna Labba widmet sich in ihrem Debütroman „Das Echo der Sommer“ der Geschichte der Samen, dem indigenen Volk des Nordens, dem sie selbst entstammt. Früher folgten sie stets ihren Rentierherden. Sie nutzten im Sommer Weiden oberhalb der Baumgrenze im Fjäll, also dem Gebirge. Im Winter fanden sie Weideland in geschützten Wäldern.

Die Handlung beginnt im Jahr 1941 als Ravdna, ihre Schwester Anne und ihre dreizehnjährige Tochter Inga im Norden von Schweden am Ufer eines Sees zusehen, wie das Wasser zunehmend ihre im Sommer genutzte kuppelförmige Torfkote und weitere Koten von anderen Dorfbewohnern flutet. Der schwedische Staat betrachtet die Samen als nicht sesshaft und verweigert ihnen damit das Recht auf eigenes Land. In unregelmäßigen Abständen wird der Staudamm am See erhöht, um mit Wasserkraft mehr Strom zu gewinnen. Zunächst wird auf das Hab und Gut der samischen Bevölkerung keine Rücksicht genommen. Während Anne zunehmend resigniert, beginnt Ravdna auf ihre Weise für die Rechte ihres Volks und den Erhalt ihrer kulturellen Identität zu kämpfen. Es wird ein langer und steiniger Weg.

Elin Anna Labba erzählt realistisch von dem entbehrungsreichen Alltag der Samen: von ihren Lebensgewohnheiten und Ritualen, von ihrer Kleidung und ihrer Ernährung. Im Laufe der Erzählung lernte ich mehr über die Historie des Volks. Durch die Perspektive der drei Protagonistinnen mit Mutter, Tochter und Schwester erfuhr ich auch vom familiären Miteinander und der gegenseitigen Unterstützung im Alltag. Samische Männer sind in der Regel im Sommer mit den Rentieren unterwegs. Die Frauen in den dörflichen Ansammlungen sind geschickt und fertigen diverse Artikel, die sie, wann immer möglich zum Verkauf anbieten, vor allem an Touristen. Themen wie Liebe oder Partnerschaft spielen hingegen eine eher untergeordnete Rolle.

Immer wieder wird samisch gesprochen, was den Lesefluss unterbricht, jedoch zur authentischen Atmosphäre beiträgt. In freien Versen lässt die Autorin zu Beginn, zwischen den Kapiteln und am Ende eindrucksvoll den See selbst zu Wort kommen. So verstärkt sie die poetische und zugleich beklemmende Stimmung ihres Romans

„Das Echo der Sommer“ erzählt anhand dreier Protagonistinnen einen bewegenden Ausschnitt aus der schicksalhaften Geschichte der Samen. Abseits des Dramas um die wiederholten Überflutungen ihrer Siedlung entwickelt sich der Roman in ruhigem Ton und vermittelt ein tiefes Gefühl für das Leben im Einklang mit der Natur. Ich habe beim Lesen viel über ein mir bisher unbekanntes Stück Zeitgeschichte erfahren, ebenso wie über samische Kultur und Lebensart. Der Umgang des schwedischen Staats mit diesem indigenen Volk lässt mich nach dem Beenden der Lektüre nachdenklich zurück. Gerne empfehle ich das Buch weiter.

Montag, 26. Mai 2025

Rezension: Wut und Liebe von Martin Suter

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Wut und Liebe
Autor: Martin Suter
Erscheinungsdatum: 23.04.2025
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783257073331
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Camilla da Silva ist 31 Jahre alt und gleichzeitig von Wut und Liebe im Bauch erfüllt: Sie liebt Noah Bach, der sich als Künstler jedoch bis jetzt keinen Namen machen konnte. Gleichzeitig ist sie wütend auf ihn, weil er so gut wie nichts zum gemeinsamen Auskommen beiträgt. Ihr Gehalt als Buchhalterin reicht jeden Monat gerade so aus, um den Lebensunterhalt für sie beide zu meistern. Allmählich wird sie von dem Gefühl beschlichen, dass ihr kaum Zeit bleibt, um ihr Leben so zu verändern, dass sie für den Rest ihrer Jahre keine finanziellen Sorgen mehr haben muss. Die naheliegendste Lösung schein ihr daher, sich einen wohlhabenden Ehemann zu suchen.

Darum trennt sie sich schweren Herzens von ihrem Freund, der ein hervorragender Schütze ist, was kaum jemand weiß. Noah möchte jedoch seine Liebe zu Camilla nicht so leicht aufgeben. Er lernt eine ältere Witwe kennen, die ihm ein zweifelhaftes Angebot macht.

Camilla und Noah sind die beiden Hauptfiguren im Roman „Wut und Liebe“ von Martin Suter. Der Autor vermittelte mir fortwährend das Gefühl, dass seine Protagonistin und sein Protagonist nicht voneinander lassen können. Camillas Beweggrund, die Beziehung zu beenden, ist wohlüberlegt. Ich wusste nicht, ob ich Camilla für den Mut, ihr Leben auf diese radikale Art mit weitreichenden Konsequenzen zu verändern, verachten oder bewundern sollte. Gleichzeitig hatte ich Mitgefühl für Noah. Aufgrund der Trennung steht sein Ziel, Anerkennung in der Kunstszene zu finden und damit Verkäufe zu generieren, auf dem Spiel. Aber ist er wirklich nur ein Bauernopfer in Camillas Plänen? Er weiß: „Wenn er wieder in seinen gelernten Beruf als Grafiker zurückkehrt, wird er nicht genügend Arbeitszeit aufbringen können, um seine angestrebte Karriere voranzutreiben. Bei mir verlor er Sympathiepunkte, weil er ernsthaft darüber nachdenkt, das unmoralische Angebot anzunehmen.

Es ist faszinierend zu beobachten, wie sowohl Camilla wie auch Noah nach Selbstverwirklichung streben und dabei ausgerechnet jenen vertrauen, die ein angenehmes Leben führen und sich durch selbstsicheres Auftreten und große Worte auszeichnen. Der Roman ist nicht nur eine gefühlvoll erzählte Liebesgeschichte, sondern enthält auch kriminalistische Elemente. Martin Suter gewährt einen Einblick in den Handel mit Kunstgegenständen und den Abhängigkeiten im Netzwerk aus GaleristInnen, Kunstvermittelnden und KünstlerInnen. Dabei streut er nebenbei Kritik am gesellschaftlichen System ein.

In seinem Roman „Wut und Liebe“ wirft Martin Suter die Frage danach auf, wie wichtig uns finanzielle Sicherheit im Leben ist und wie weit wir gehen würden, um sie zu erreichen. Die Geschichte ist leicht zu lesen, überrascht mit einigen Wendungen und ist zugleich tiefgründig. Sehr gerne empfehle ich das Buch uneingeschränkt weiter.

Mittwoch, 21. Mai 2025

Rezension: Schauplätze der Weltliteratur - Eine Reise zu berühmten Orten großer Werke von John Sutherland (Hrsg.)

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Schauplätze der Weltliteratur: Eine Reise zu
berühmten Orten großer Werke
Herausgeber: John Sutherland
Erscheinungsdatum: 07.04.2025
Verlag: wbg Theiss (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover
ISBN: 9783534610303
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Das Buch „Schauplätze der Weltliteratur“ ist eine „Reise zu berühmten Orten großer Werke“, wie es im Untertitel heißt. Es geht hier nicht darum, reale Schauplätze vorzustellen. John Sutherland, der die Sammlung zusammengestellt hat, erklärt in seiner Einleitung, dass eine „literarische“ Landschaft mit Worten gestaltet wurde. Sie lösen beim Lesenden ein Kopfkino aus, anhand dessen sich für ihn eine Vorstellung bildet. Außerdem bezieht er in dem von ihm angewendeten Konzept sowohl Orte wie auch die Gewohnheiten, Sitten und Konventionen der dort lebenden Menschen mit ein. Anhand der Beschreibung von SchriftstellerInnen des gleichen Schauplatzes wird deutlich, wie verschieden dieser wahrgenommen wird.

In vier verschiedenen Kapiteln ordnet der Herausgeber die von ihm ausgewählten Bücher zeitlich zu. „Romantische Aussichten“ behandelt Romane, die in der Zeit bis 1920 geschrieben wurden, „Kartierung der Moderne“ schaut auf Bücher aus der Zeit von 1921 bis 1951, „Nachkriegspanoramen“ umfasst die Jahre bis 1982 und abschließend blickt man in „Zeitgenössische Schauplätze“ auf die vergangenen vier Jahrzehnte. Jedes Buch wird auf zwei bis vier Seiten vorgestellt. Nach einem ersten Pitch unterhalb des Titels wird der Inhalt des literarischen Werks kompakt zusammengefasst. Kurze Zitate aus dem jeweiligen Roman ergänzen den Überblick. Biografische Informationen zur Autorin oder zum Autor befinden sich in einer äußeren Spalte am Beginn der Vorstellung. Fotos, Landkarten, Illustrationen und Meisterwerke ergänzen die Darstellung.

Die Präsentation eines Romans übernehmen AutorInnen von Rang, die im Anhang alphabetisch aufgeführt sind. Dazu zählen KritikerInnen, ProfessorInnen und RedakteurInnen. Auf welche Reise sie den Lesenden mitnehmen, steht unterhalb ihrer Beschreibung. In ihren Zusammenfassungen des jeweiligen Werks beschreiben sie neben dem Schauplatz Wissenswertes zu Hintergründen und Motiven der Entstehung. Ein Register und ein Bildnachweis finden sich ebenfalls am Ende des Buchs.

„Schauplätze der Weltliteratur“ ist ein ansprechend aufgemachtes gestaltetes Buch, das wertig erscheint. Von den mehr als siebzig vorgestellten Werke kann der Lesende sich inspirieren lassen, um den Roman anschließend zu erwerben und zu lesen. Diejenigen, die das ein oder andere Buch bereits kennen, werden sich gerne durch die Präsentation daran zurückerinnern. Ich vergebe eine Leseempfehlung und weise darauf hin, dass das Buch auch gut zum Verschenken geeignet ist.

Dienstag, 20. Mai 2025

Rezension: Richtig anders - anders richtig: Selbstbewusst neurodivergent von Kathrin Köller und Irmela Schautz

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Richtig anders - anders richtig: Selbstbewusst neurodivergent
Autorinnen: Kathrin Köller und Irmela Schautz,
illustriert von Irmela Schautz und gestaltet von Svenja von Döhlen (Formdusche)
Erscheinungsdatum: 15.04.2025
Verlag: Hanser (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Klappenbroschur
ISBN: 9783446279780

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In ihrem Buch „Richtig anders – anders richtig“ beschreiben die Autorinnen Kathrin Köller und Irmela Schautz den Kosmos der Neurodiversität, die die Vielfalt unserer Gehirne widerspiegelt. Jeder Mensch ist einzigartig und darum kann er nicht neurodivers sein, sondern ist ein Neurotyp, der im Vergleich mit anderen die Verschiedenartigkeit zeigt. Unsere Gesellschaft misst den Personen grundsätzlich an einer Mehrheit. Wessen Gehirn anders funktioniert, ist neurodivergent. Die Autorinnen widmen sich in drei Kapiteln den großen Abweichlern, die sogar in den beiden Krankheitskatalogen aufgeführt sind: ADHS, Legasthenie sowie Dyskalkulie und Autismus. Weitere Formen, am Rande des neurodivergenten Spektrums sind Synästhesie, Dyspraxie, Bipolarität und Hochsensibilität. Sie werden kurz erklärt, aber nicht weiter ausgeführt.

Kathrin Köller und Irmela Schautz möchten betroffene Menschen mit ihren Ausführungen stärken und ihnen zu mehr Selbstbewusstsein verhelfen, unter anderem, damit sie offen mit ihrer Neurodivergenz umgehen. Zugleich richten sich ihre Beiträge an all jene, die bisher wenig oder gar nichts über neurologische Störungen gehört haben. In der Gesellschaft kursieren viele Vorurteile, die durch das hier vermittelte fundierte Wissen abgebaut werden können. Eine Diagnose kann erleichternd sein, führt jedoch leider noch immer viel zu oft zur Stigmatisierung.

Niemand sollte sich zurückziehen, betonen die Autorinnen, wenn er denkt, dass er anders als der Durchschnitt ist. Sie heben hervor, dass es wichtig ist, sich professionelle Hilfe zu suchen, um die Unterstützung zu erfahren, die möglich ist. Verschweigen kann zu einer Abwärtsspirale führen. Es ist eine Gratwanderung zwischen den Konnotationen „einfach nur anders“ und „behindert“, was benötigte Therapie und Nachhilfe bereitstellt. Die jeweiligen Störungen sind komplex und für jede und jeden muss eine individuelle Hilfe gefunden werden.

In den Texten, die mit dem Button „Hero“, „Voices“, „Interviews“ oder „Porträt“ gekennzeichnet sind, werden Betroffene mal kürzer, mal länger vorgestellt oder kommen selbst zu Wort. Zahlreiche farbige Illustrationen verdeutlichen das im Text Beschriebene und sprechen bereits eine jüngere Leserschaft an. Das Buch ist ab elf Jahren konzipiert. Ich empfehle es auch Erwachsenen, sich mit den Begrifflichkeiten auseinanderzusetzen und dabei mehr über Neurodivergenzen zu erfahren.


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