Donnerstag, 3. Oktober 2024

Rezension: Fate of the Sun King - Die Artefakte von Ouranos 3 von Nisha J. Tuli


Fate of the Sun King - Die Artefakte von Ouranos 3
Autorin: Nisha J. Tuli
Übersetzerin: Paula Telge
Broschiert: 512 Seiten
Erschienen am 2. September 2024

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Der dritte Band der Reihe rund um die Artefakte von Ouranos beginnt wenige Tage nach den Ereignissen des vorherigen Bandes. Nachdem Lor entschieden hat, dass sie zurück nach Aphelion muss, ist sie mit ihrer Reisegruppe nun dort eingetroffen. Das Ziel ist es, zum Spiegel zurückzukehren. Doch noch fehlt es an einem Plan, wie sie sich unbemerkt in den Thronsaal von Atlas schleichen soll. Es dauert nicht lang, bis sie in der Umbra Gabriel über den Weg läuft. Zum Glück hat er kein Interesse daran, sie an Atlas zu verraten. Vielleicht kann er ihr sogar helfen? Doch Gabriels Spielraum ist eng: Er wird durch Magie gezwungen, Atlas zu gehorchen, was ihn schon jahrelang davon abhält, dessen dunkelstes Geheimnis zu verraten…

Ich habe mich sehr über die Rückkehr nach Aphelion und das Wiedersehen mit Charakteren, die Lor dort im ersten Band zurückgelassen hat, gefreut. Die Geschwindigkeit, mit sie dort auf alte Bekannte trifft, ist erstaunlich hoch. Für mich aber kein Grund zur Beschwerde: Nachdem mir das Tempo im zweiten Teil oftmals zu langsam war, hat es nun wieder deutlich angezogen und pendelt sich in diesem Buch auf einem guten Niveau ein. Ich war gespannt, welche neuen Pläne Lor gemeinsam mit ihren Geschwistern sowie Nadir und dessen Freunden schmieden wird.

Nachdem im letzten Band enthüllt wurde, was vor der Zerstörung des Königinnenreichs Herz wirklich geschehen ist, springen die Rückblicke diesmal noch weiter in der Zeit zurück und nahmen mich mit ins erste Zeitalter von Ouranos. Auch damals liefen die Dinge auf dem Kontinent allmählich aus dem Ruder und ich erfuhr mehr über den Ursprung der Artefakte. Mich erwarteten in diesen Rückblicken einige Überraschungen. Auch in der Gegenwart bringt das Geheimnis von Atlas, in das ich dank der Kapitel aus der Perspektive von Gabriel eingeweiht wurde, neue Brisanz ins Geschehen.

Schon in der Widmung ganz vorn im Buch verrät die Autorin, dass sie es Lor und Nadir in diesem Band endlich tun lässt. Die beiden erhalten viele Gelegenheiten, Zeit miteinander zu verbringen und ihre Gefühle füreinander intensiver zu erkunden. Nach dem ganzen Hin und Her finden sie endlich eine gemeinsame Basis und es kommt zu mehr als einer Szene mit ordentlich Spice. Und auch was ihre Beziehung angeht wird ein weiteres Geheimnis gelüftet, das Fluch und Segen zugleich zu sein scheint. Wer die ersten beiden Bände der Artefakte von Ouranos mochte, für den ist „Fate of the Sun King“ Pflicht. Ich bin nun mächtig gespannt auf den vierten und abschließenden Band der Reihe!


Mittwoch, 2. Oktober 2024

Rezension: Tee für die Geister von Chris Vuklisevic

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Tee für die Geister
Autorin: Chris Vuklisevic
Übersetzerin aus dem Französischen: Maria Hoffmann-Dartevelle
Erscheinungsdatum: 11.09.2024
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783758700019
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Das Buch „Tee für die Geister“ ist ein Roman des magischen Realismus, in dem die französische Autorin Chris Vuklisevic ihrer Fantasie freien Lauf lässt. Den Hintergrund der Geschichte bilden besondere Arten von Tee, die beim Genießenden unterschiedliche Wirkungen zeigen. Bis hin zur Teekanne sind die Beschreibungen magisch untermalt. Die Autorin lässt einen Hersteller von phantofassbaren Gegenständen erzählen, der die Begebenheiten aus erster Hand erfahren hat und sich manchmal auch direkt an den Lesenden wendet.

Felicité und Egonia sind Schwestern. Sie wurden kurz nach dem Tod ihres Vaters in seiner Schäferhütte nach unüblich vielen Schwangerschaftsmonaten geboren. Ihre Mutter Carmine kümmert sich von Beginn an mehr um Felicité, der Älteren, die später das Gymnasium in Nizza besucht und sich zur Teeologin entwickelt sowie zur Geisterschleuserin. Die vernachlässigte Egonia, deren Worte das Verderben mit sich bringen, zieht sich in die Wälder der Provence zurück. Dreißig Jahre lang haben die Schwestern keinen Kontakt, doch nachdem Felicité vom Tod ihrer Mutter erfährt, gibt sie die Information mittels eines Teesatzes an Egonia weiter, die daraufhin anreist. Gemeinsam machen die Geschwister sich auf die Suche danach, was ihre Mutter ihnen in ihren letzten Momenten mitteilen wollte. Dabei hoffen sie, ihre Fragen über die Herkunft der Mutter und ihrer zeitweiligen Abwesenheiten zu klären. Die gesamte Story ist sehr vielschichtig.

Immer wieder kehrt die Erzählung handlungsmäßig zurück in die Kindheit der beiden Schwestern. Die Autorin arbeitet mit gerne mit Gegensätzen wie Gut und Böse oder Blühen und Verderben. Die Magie spielt insgesamt eine große Rolle und es ist schwierig, dagegen aufzubegehren. Letztlich zeigt sich, dass es möglich ist, sie sich zunutze zu machen. Es gibt kaum Gerechtigkeit und vor allem bei den Geschwistern ist dies deutlich zu spüren, denn bereits ihre Mutter hat bei ihrer Erziehung unterschiedliche Maßstäbe angelegt, zu denen keine Gründe erkennbar sind. Die Geschichte ist komplex und treibt ständig neue fantastische Gedanken aus, die sich ineinander verwickeln oder auseinanderlaufen.

Die Suche nach der Vergangenheit führt die beiden Frauen bis nach Andalusien. Auf der Reise der Schwestern entstehen jedes Mal Orte mit einzigartiger Atmosphäre, die gut vorstellbar ist. Obwohl die Differenzen in der Beziehung der Schwestern manchmal kaum heilbar erscheinen, bringt Autorin die Geschichte zu einem versöhnlichen Abschluss.

Die literarische Fantasy „Tee für die Geister“ von Chris Vuklisevic ist eine düstere Geschichte voller ungewöhnlicher magischer Elemente mit ausschweifenden Beschreibungen. Wer mystische Erzählungen mag, dem wird der Roman gefallen. 


Dienstag, 1. Oktober 2024

Rezension: In der Erde - Ein Fall für Lilly Hed von Pernilla Ericson

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: In der Erde - Ein Fall für Lilly Hed
Autorin: Pernilla Ericson
Übersetzerin aus dem Schwedischen: Friederike Buchinger
Erscheinungsdatum: 28.08.2024
Verlag: Fischer Scherz (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Klappenbroschur
ISBN: 9783651001312
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Im dritten Kriminalfall für die schwedische Ermittlerin Lilly Hed geht es im Buch „In der Erde“ von Pernilla Ericson um die Ursache für zunächst eine, später dann einer zweiten Explosion eines Wohnhauses. Nachdem die Kommissarin in den vorigen Bänden bereits gegen Feuer und ein Unwetter angekämpft hat, muss sie sich nun mit der anhaltenden Trockenheit auseinandersetzen. Die Landwirte protestieren inzwischen mit Traktorenblockaden. Lilly, die im sechsten Monat schwanger ist, hat mit der Hitze zu kämpfen, aber noch mehr macht ihr die immer wiederkehrende Übelkeit mit Erbrechen zu schaffen. Ihr Partner, Vater ihres Kindes, ist als Feuerwehrmann ständig im Einsatz.

Lilly besetzt eine geteilte Stelle. Einerseits fährt sie im Streifendienst, andererseits ist sie an Ermittlungen im Kommissariat beteiligt. Nachdem sie ihren früheren Freund wegen seinen Übergriffen angezeigt hat, wartet sie nun auf das Verfahren gegen ihn und rechnet ständig damit, dass er Mittel und Wege findet, sich an ihr zu rächen. Sie wird als leitende Ermittlerin eingesetzt, als ein Haus in die Luft fliegt und ein Ehepaar und dessen Tochter dabei getötet werden. Bald scheint es jedoch so, als ob das Kind entführt wurde und noch lebt. Es wird für Lilly zu einer Herausforderung, den Tathinweisen zu folgen, während sie versucht, sich so zu verhalten, dass es ihrem Nachwuchs gut geht.

Wieder einmal gelingt Pernilla Ericson die Darstellung der extremen Wetterlage, indem ihre Figuren sie auch wahrnehmen, aber ihr nichts entgegenzusetzen haben. Dadurch wird deutlich, dass die Folgen des Klimawandels nicht kurzfristig beseitigt werden können. Die Autorin schreibt detailgenau. Als Leserin hatte ich einen Vorsprung zu Lillys Ermittlungen, denn die Kapitel springen immer wieder zum Täter und seinem Opfer. Obwohl die Identität des Tatverdächtigen auch mir lange verborgen blieb, wusste ich im Gegensatz zur Kommissar über den Gesundheitszustand des Mädchens Bescheid. Die Ermittlungen werden dadurch erschwert, dass zunächst kein Motiv erkennbar ist. Darum stehen zunächst mehrere Figuren im Verdacht.

Lilly und ihre KollegInnen geraten unter Zeitdruck, als der Entführer Bedingungen mit einer Frist setzt. Er droht damit, nach deren Ablauf kein Trinkwasser mehr zur Verfügung zu stellen. Irgendwann fordert auch die Gesundheit von Lilly und ihrem Kind den Vorrang, doch wer die Kommissarin in ihren bisherigen Fällen erlebt hat, weiß, dass aufgeben für sie keine Option ist.

Auch die Handlung des dritten Bands der „Vier-Elemente-Kriminalreihe“ von Pernilla Ericson „In der Erde“ ist wie bei den ersten beiden Teilen komplex und gut strukturiert. Die Autorin baut von Beginn an Spannung auf und hält sie bis zum Schluss. Auf Nebenschauplätzen hat die Protagonistin sich mit den Folgen des Klimawandels auseinanderzusetzen, mit häuslicher Gewalt und sozialen Ungerechtigkeiten. Die Reihe glänzt mit authentischen Settings und glaubwürdigen Abläufen. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung und freue mich auf den abschließenden Band.



Montag, 30. September 2024

Rezension: Moments in Nature von Gamander López und Una López

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Moments in Nature - Die Natur ist näher, als du denkst.
Entdecke mit uns die Vielfalt der Tierwelt
Autoren: Gamander López und Una López
Fotografien: Gamander López
Erscheinungsdatum: 23.09.2024
Verlag: Kosmos (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Prachtband im Hardcover
ISBN: 9783440178768

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Der Tierfilmer und -fotograf Gamander López hat gemeinsam mit seiner älteren Schwester Una, einer Anglistik- und Germanistikstudentin, das Buch „Moments in Nature“ zusammengestellt. Im Untertitel „Die Natur ist näher, als du denkst. Entdecke mit uns die Vielfalt der Tierwelt.“ Ist der Hinweis versteckt, dass hier nicht die „Big Five“ zu entdecken sind, sondern die Natur in unserer Umgebung: in Gärten, nahegelegenen Wäldern und Parks. Ergänzt wird die Auswahl durch Bilder, die Gamander auf verschiedenen Exkursionen in Europa fotografiert hat. Es sind vor allem Vögel, Eichhörnchen, Füchse, Mäuse und Haubentaucher, die im Buch in all ihrer Schönheit zu sehen sind.

Die Fotos wurden alle von Gamander erstellt. Obwohl er erst 22 Jahre alt ist, hat er bereits einige Preise für seine Arbeiten gewonnen. Inzwischen arbeitet er auch als Kameramann für Naturfilme. Die begleitenden Texte zu den Fotografien sind von beiden Geschwistern, wobei jeweils dazu geschrieben ist, wer was verfasst hat. Obwohl Una nicht mit der Kamera unterwegs ist, beobachtet sie die Natur ebenso wie ihr Bruder und schreibt darüber, was sie sie sieht und erlebt. Angereichert sind ihre Texte mit weiterführendem Wissen zu den Tieren.

Gamander erzählt von seinen Fotoabenteuern und wie es ihm gelingt, erstklassige Fotos zu gewinnen. Zusätzlich zu seinen Feldberichten gibt er Informationen und Tipps zu Kameras, und dazu, wie es gelingt, gute Tierfotos zu erhalten, wobei er beispielsweise Lichtverhältnisse und Tarnmöglichkeiten anspricht. Beiden ist es wichtig, zu vermitteln, wie man sich in der Natur am besten verhält und die Tiere mit Respekt zu behandeln.

Mit dem Buch „Moments in Nature“ ist ein Werk entstanden, in dem großartige Fotografien von Gamander López zu finden sind, die von Texten begleitet werden, die sowohl Gamander als auch seine Schwester Una erstellt haben. Beide vermitteln im Geschriebenen ihre Liebe zur Natur. Das Buch hat Aufforderungscharakter selbst aktiv zu werden, um die Natur achtsam zu erkunden und dabei genau hinzuschauen, um Flora und Fauna zu entdecken. Sehr gerne vergebe ich eine Leseempfehlung. Der Bildband ist auch ein schönes Geschenk.


Sonntag, 29. September 2024

Rezension: Sobald wir angekommen sind von Micha Lewinsky


Sobald wir angekommen sind
Autor: Micha Lewinsky
Hardcover: 288 Seiten
Erschienen am 24. Juli 2024

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Ben Oppenheim hat insbesondere vor einer Sache Angst: Einem Atomkrieg, der Europa vernichten wird. Er ist überzeugt davon, dass er als Jude einen angeborenen Fluchtinstinkt besitzt, auch wenn er ansonsten keinen großen Bezug zu seiner Religion hat. Seine Ex Marina tickt da ähnlich. Die beiden haben nicht mehr viel gemein, doch in einem sind sie sich einig: Wenn es losgeht, dann werden sie mit ihren beiden Kindern sofort nach Brasilien fliehen. Dorthin verschlug es einst auch Stefan Zweig, Bens großes Vorbild, zu dessen Leben er ein Drehbuch geschrieben hat, das er bislang aber nicht verkaufen konnte. Als in Russland ein Waffenlager explodiert, steht Marina mit Flugtickets für die Familie vor seiner Tür. Der Rest der Menschheit scheint jedoch noch nicht zu glauben, dass ein Weltkrieg bevorsteht…

Zu Beginn des Romans lernte ich Ben Oppenheim als mittelmäßig erfolgreichen Drehbuchautor kennen. Sein großer Erfolg liegt schon einige Jahre zurück und sein aktuelles Projekt, einen Film über das Leben von Stefan Zweig, möchte niemand realisieren. Während der Woche pendelt er zwischen der Familienwohnung, in der er und Marina die Kinder im Nestprinzip betreuen, seinem Atelier und der Wohnung seiner neuen Freundin Julia hin und her. Abgesehen von seinem Drehbuchprojekt, an dem er starrsinnig festhält, machte er auf mich den Eindruck, als scheine er nicht richtig zu wissen, was er eigentlich will. Dazu passt auch sein Entschluss, mit Marina und den Kindern nach Brasilien zu fliegen, als sie mit Flugtickets vor seiner Tür steht. Julia lässt er zurück, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen.

Der Autor erzählt Bens Flucht, die zu seiner Unzufriedenheit schnell touristische Züge annimmt, überspitzt und mit einer großen Portion Sarkasmus und Humor. Der Protagonist ist von Beginn an kein Sympathieträger und ich erlebte mit, wie er es sich im Laufe der Geschichte quasi mit seinem gesamten Umfeld verscherzt, da er es einfach nicht schafft, eine Entscheidung zu treffen und zu dieser zu stehen. Die Reaktionen seiner Ex Marina und seiner Freundin Julia konnte ich daher gut nachvollziehen. Schließlich muss er zu seiner großen Enttäuschung auch noch feststellen, dass es ihm nicht gelingt, mit seinem Schicksal Parallelen zu dem von Stefan Zweig herzustellen.

Insgesamt ist „Sobald wir angekommen sind“ ein kurzweiliger und humorvoller Roman, welcher das Thema Fluchtinstinkt auf skurrile Weise behandelt und seinen wankelmütigen Protagonisten auf eine abenteuerliche Reise mitnimmt.


Mittwoch, 25. September 2024

Rezension: Vielleicht können wir glücklich sein von Alexa Hennig von Lange

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Vielleicht können wir glücklich sein
Autorin: Alexa Hennig von Lange 
Erscheinungsdatum: 13.08.2024
Verlag: Dumont (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband
ISBN: 9783832168063
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„Vielleicht können wir glücklich sein“ ist der dritte und abschließende Band der Heimkehr-Trilogie der Autorin Alexa Hennig von Lange. Die Bücher lassen sich unabhängig voneinander lesen, weil bestimmte Zusammenhänge an entsprechenden Stellen erklärt werden. Auf der Ebene der historischen Handlung ist inzwischen der September 1944 eingekehrt. Für die Protagonistin Klara ist die vom Titel aufgeworfene Frage zu dieser Zeit damit verknüpft, ob sie stark genug ist, ihre vier kleinen Kinder im Kriegsgeschehen allein zu erziehen und ihnen alles angedeihen zu lassen, was sie benötigen, denn ihr Ehemann Täve hat seinen Militärdienst zu versehen.

Auf der zweiten Handlungsebene im September 2000 hat Isabell, Klaras Enkelin, den Brief ihres Großvaters Täve gefunden, in dem er seiner Frau schildert, dass er deren Adoptivtochter Tolla bei einer verstörenden Gelegenheit gesehen hat. Klara hatte ihre Tochter vor langen Jahren mit einem Kinderzug nach England geschickt. In Isabell brennt der Wunsch zu erfahren, ob Tolla den Krieg überlebt hat und vielleicht sogar noch lebt. Sie selbst versucht sich im Spagat zwischen ihrer Mutterrolle, dem Führen des Haushalt und der Fortsetzung ihrer schriftstellerischen Tätigkeit, bei der manche Probleme im Verhältnis mit ihrem Partner aufkommen. Es ist gut davon zu lesen, dass die Liebe und Zuneigung zum eigenen Kind, die Sorge um es und die Übernahme der Verantwortung für seine Sicherheit über die Jahre hinweg vergleichbar kraftvoll sind.

Die Ereignisse in der Vergangenheit beruhen auf wahren Begebenheiten, die die Großmutter der Autorin erlebt und auf über einhundert Kassetten gesprochen hat. Daher wirkt auch das im dritten Band geschilderte Kriegsgeschehen überaus authentisch. Klara hat ihren Beruf aufgegeben und kümmert sich ausschließlich um ihre Kinder, was sie täglich vor die Aufgabe stellt, sie ausreichend zu ernähren, von ansteckenden Krankheiten fernzuhalten und sie vor den zahlreichen Luftangriffen zu schützen. Ihr fünfjähriger Sohn, der älteste der Geschwister, ist ihr dabei im Rahmen seiner Möglichkeiten ernsthaft behilflich. Immer wieder steht sie vor neuen Herausforderungen.

Den letzte Band fand ich im Vergleich leider weniger interessant als den zweiten Teil, was auch daran liegt, dass nun einige Teile mehr zum besseren Verständnis wiederholt werden und die Handlung in der Gegenwart stellenweise verharrte. Allerdings ist das als Kritik auf hohem Niveau zu sehen, denn auch der dritte Band bietet die einzigartige Verbindung zwischen unterhaltender Dichtung und berührender Realität. Auch diesmal setzt sich Klara regelmäßig mit ihrem Gewissen auseinander, denn sie fürchtet sich, Widerstand gegen parteipolitische Anweisungen zu leisten, weil sie weiß, welche Konsequenzen sie und ihre Familie erleiden würden. Daher spielt sie nach außen hin weiter die treusorgende Mutter und sehnsüchtig wartende Ehefrau, während in ihrem Inneren die Wut gegen die Partei gärt und ihre Hilflosigkeit zunimmt, sich wehren zu können. Es gibt nur wenige Personen, die ahnen, was in ihr vorgeht zu denen Täve und ihre Freundin Susanne gehören.

In ihrem Roman „Vielleicht können wir glücklich sein“ lässt Alexa Hennig von Lange noch einmal die realen Erlebnisse ihrer Großmutter in fiktionalisierter Form lebendig werden. Es ist bewegend davon zu lesen, dass die Protagonistin Klara, die damit beispielhaft für viele Mütter zur damaligen Zeit steht, im letzten Kriegsjahr die alleinige Sorge um ihre Kinder trägt. Auf einer zweiten Handlungsebene wird 56 Jahre später ihre Enkelin Isabell mit andersgelagerten Problemen in ihrer Beziehung konfrontiert, in die die Autorin ihre eigenen Erfahrungen einfließen lassen konnte. Gerne vergebe ich auch den abschließenden Band der Heimkehr-Trilogie eine Leseempfehlung.


Dienstag, 24. September 2024

Rezension: Weil wir längst woanders sind von Rasha Khayat

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Weil wir längst woanders sind
Autorin: Rasha Khayat
Erscheinungsdatum: 13.08.2024
rezensierte Buchausgabe: Taschenbuch
ISBN: 9783832164096
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Die Geschwister Basil und Layla haben ihre Kindheit in Saudi-Arabien verbracht, dort, wo ihr früh verstorbenen Vater geboren wurde. Die Familie wanderte dann nach Deutschland aus, der Heimat der Mutter. In ihrem Roman „Weil wir längst woanders sind“ zeigt Rasha Khayat, wie unterschiedlich sich die Gefühle und Einstellungen der beiden Geschwister über die weiteren Jahren hinweg entwickelt haben. Basil, 31 Jahre alt und immer noch Student mit Aushilfsjob, wird von der jüngeren Layla nach Saudi-Arabien eingeladen, wo sie im Rahmen der Familie traditionell heiraten wird.

Als Leserin begleitete ich Basil auf seiner Reise und verfolgte seine Erlebnisse und dazu seine Gedanken als Ich-Erzähler. Basil versucht Verständnis für den Entschluss seiner freiheitsliebenden Schwester aufzubringen, dass sie sich den vielen Regeln, denen arabischen Frauen unterliegen. zukünftig beugen will.

Die Kindheit der Autorin ist ähnlich verlaufen wie die ihrer Protagonisten. Ihre Geschichte ist ein Vergleich und eine Auseinandersetzung der beiden verschiedenen Welten, die besonders gut und vor allem authentisch durch das eigene Wissen darum gelingt. Rasha Khayat bietet ihren Figuren den Raum, sich selbst zu verwirklichen. Sie können so leben, wie sie es aufgrund ihrer Erfahrungen, als gut empfinden. Für mich bedeutete es, Einblicke in die ansonsten wenig beschriebene familiäre Welt des Staats auf der Arabischen Halbinsel zu erhalten.

In einem, dem Roman angehängten Essay der Autorin, indem sie ihre eigenen Gefühle beim Wandeln zwischen den Welten darstellt, kommt zum Ausdruck, dass in Deutschland häufig erwartet wird, dass Personen jenseits des von uns gesehenen Durchschnitts, sich anpassen. Dabei wird aus dem Blick verloren, dass dadurch die Diversität menschlichen Lebens schwindet.  

„Weil wir längst woanders sind“ von Rasha Khayat ist ein Roman, den es sich lohnt, zu lesen.

Sonntag, 22. September 2024

Rezension: Die Unmöglichkeit des Lebens von Matt Haig


Die Unmöglichkeit des Lebens
Autor: Matt Haig
Übersetzer:innen: Sabine Hübner, Dr. Bernhard Kleinschmidt, Thomas Mohr
Hardcover: 416 Seiten
Erschienen am 29. August 2024

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Die 72-jährige Grace, eine ehemalige Mathematiklehrerin, führt ein einsames Leben. Sie hat den Unfalltod ihres Sohnes nie verwunden und nun ist auch ihr Mann Karl gestorben. Völlig überraschend erhält sie eines Tages die Nachricht, dass sie ein Haus auf Ibiza geerbt hat. Dieses wurde ihr von Christina vermacht, einer ehemaligen Kollegin, die ihrem Leben viele Jahre zuvor eine neue Richtung gegeben hat, nachdem Grace sie in ihrem Vorhaben bestärkt hat. Kurz darauf ist sie nach Ibiza ausgewandert, wo sie zuletzt als Wahrsagerin tätig war. Grace wundert diese aus einer flüchtigen Bekanntschaft resultierende Erbschaft sehr. Sie beschließt, sich vor Ort ein Bild der Lage zu machen und sich das Haus wenigstens einmal anzusehen. Dabei macht sie bald Entdeckungen, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen.

Der Roman beginnt mit einem Brief eines ehemaligen Schülers an Grace, die daraufhin beschließt, ihre Geschichte für ihn zu verschriftlichen. Nach einigen Informationen über sie und ihren bisherigen Lebensweg kommt die Handlung schnell in Ibiza an, wo Grace sich das Haus anschaut, das nun ihres sein soll. Dort hat Christina ihr einen Brief hinterlassen, der sie auffordert, einige Menschen aufzusuchen und an gewissen Aktivitäten teilzunehmen. Das alles erscheint ihr recht Mysteriös, genauso wie die Umstände von Christinas Tod. Was steckt hinter all dem? Meine Neugier war geweckt.

Ein alter Bekannter von Christina bringt durch sein Eingreifen die Dinge schließlich ins Rollen und bringt paranormale Fähigkeiten ins Spiel, die der Handlung eine entscheidende Prägung geben. Vorherige Romane des Autors beschäftigten sich schon mit Themen wie Multiversen, Aliens und Zeitreisen, sodass die Entwicklung wenig überraschend kam. Mir fiel es diesmal jedoch relativ schwer, mich darauf einzulassen, da es für meinen Geschmack etwas zu spirituell und esoterisch wurde mit vielen Erinnerungs- und Traumsequenzen. Durch die kurzen Kapitel bleibt das Tempo aber hoch, sodass ich weiterhin gespannt war zu erfahren, worauf das alles hinausläuft.

Die Geschichte entwickelt sich schließlich zu einem Ökothriller rund um das Schicksal des unter Naturschutz stehenden Felsens Es Vedrá vor der Küste Ibizas, auf welchem ein Hotel entstehen soll. Dabei macht Grace als Protagonistin eine große Entwicklung durch, sie stellt sich den Schuldgefühlen, die sie schon so lange begleiten, und findet neuen Mut. Ich tauchte an ihrer Seite in ein vielfältiges Ibiza ein, das sich auf der einen Seite durch seine Natur und Kultur und auf der anderen Seite durch seine Party- und Touristenszene auszeichnet. Dabei wurde ich nachdenklich gestimmt im Hinblick darauf, wie die Natur zugunsten der Wirtschaft immer stärker zurückgedrängt wird. Gerne empfehle ich den Roman an alle weiter, die Lust auf einen Ausflug nach Ibiza haben, der insbesondere durch ein übersinnliches Phänomen das Leben der Protagonistin völlig verändern wird.


Freitag, 20. September 2024

Rezension: Das Wesen des Lebens von Iida Turpeinen

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Das Wesen des Lebens
Autor: Iida Turpeinen
Übersetzer aus dem Finnischen: Maximilian Murmann
Erscheinungsdatum: 28.08.2024
Verlag: S. Fischer (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband
ISBN. 9783103976304
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Die Finnin Iida Turpeinen hat mit „Das Wesen des Lebens“ einen ungewöhnlichen Roman geschrieben, in dem sie verdeutlicht, wie der Mensch danach bestrebt ist, die Natur für seine Zwecke zu nutzen, dabei aber immer wieder ausufert. Die Umschlaggestaltung fängt das Thema sehr schön ein und spiegelt wider, dass es um Eroberungen von Land und dem Entdecken von Flora und Fauna geht. Leitfaden der Geschichte bildet die Stellersche Seekuh, einem bis zu acht Meter langen Tier, das seit langem ausgestorben ist.

Die Autorin lässt ihren Roman im Naturhistorischen Museum Helsinki beginnen, denn diese Einrichtung verfügt über ein Skelett der Stellerschen Seekuh. Dann begleitete ich sie gedanklich in das Jahr 1741, in dem sich eine Expedition mit zwei Schiffen von Sibirien aus auf den Weg nach Amerika begibt. An Bord ist auch der Arzt, Ethnologe und Naturforscher Georg Wilhelm Steller. Auf der Rückreise von Alaska strandet das Schiff auf der Beringinsel. Die Mannschaft kämpft neun Monate lang mit dem Überleben, das auch deswegen gelingt, weil Steller eine große Seekuhart entdeckt, die er töten lässt, erforscht, aber das wohlschmeckende Fleisch auch zur Nahrung dient. Pelztierjäger werden sie später ausrotten, ohne dass ein Wissenschaftler sie je wieder lebend sehen wird.

Es sind insgesamt drei Stationen der Zeitgeschichte, an denen die Autorin mit ihrer Geschichte halt macht. Das Jahr 1859 führte mich als Leserin an die Südostküste Alaskas, wo der finnische Gouverneur Furuhjelm gemeinsam mit finnischen Professor von Nordheim, ein Abendessen einnimmt, bei dem der Gouverneur seinem Gegenüber das Skelett einer Stellerschen Seekuh verspricht. Fast einhundert Jahre später erhält der Ornithologe 1952 den Auftrag, dass Skelett einer Seekuh im Naturkundemuseum Helsinki zu restaurieren.

Der Roman basiert auf Tatsachen. Dank sehr guter Recherche lässt IIda Turpeinen ihre Figuren nahvollziehbar agieren, beschränkt sich aber auf wenige Akteure, die einen größeren Platz einnehmen. Sie arbeitet heraus, warum viele Tiere durch Jagen ausgestorben sind. Im 18. Jahrhundert glaubte man nicht, dass das jemals passieren würde. Am Rande der Geschichte ist einiges über den Ursprung des Lebens zu erfahren.

In jedem Abschnitt lässt Iida Turpeinen die Zeit lebendig werden, indem sie Meinungen wiedergibt und in den gesellschaftspolitischen Rahmen setzt. In ihrem Roman spricht sie den Forschergeist der Menschen an und seinen Sinn für Abenteuer, der in früheren Jahrhunderten noch reichlicher genährt wurde als heute. Die Klimakrise zeigt ebenso wie viele ausgestorbene Tierarten, dass unser Umgang mit der Natur über viele Jahrhunderte hinweg nicht nachhaltig ist.

Im Roman „Das Wesen des Lebens“ verknüpft Iida Turpeinen Wahrheit und Fiktion zu einer besonderen Geschichte über das Verhältnis des Menschen zur Natur und unserem Wissensdurst in diesem Zusammenhang, der nicht immer positive Auswirkungen trägt. Sie rückt beispielhaft die Stellerschen Seekuh in den Fokus, die längst ausgestorben ist, aber bei der die Faszination an Knochenfunden immer noch besteht. Sehr gerne vergebe ich eine Leseempfehlung für diesen etwas eigenwilligen Roman.

Dienstag, 17. September 2024

Rezension: Resilienz - Seelenschokolade von Julia Colella

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Resilienz - Seelenschokolade
Autorin: Julia Colella
Erscheinungsdatum: 17.09.2024
Verlag: Edition Michal Fischer
rezensierte Buchausgabe: Softcover
ISBN: 9783745922516
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Das Buch „Resilienz – Seelenschokolade“ ist in der Edition Michael Fischer erschienen und umfasst knapp über zweihundert Seiten. Das Anliegen der Autorin Julia Colella ist es, den Lesenden dabei zu helfen, ihre Ängste, Stress und Krisen zu meistern und ihnen praktische Übungen und Anleitungen zur Hand zu geben für mehr mentale Stärke, Zuversicht und Wohlbefinden. Die Aufmachung in Pastellfarben signalisiert eine sanfte Herangehensweise. 
Zunächst verweist die studierte Wirtschaftspsychologin und ganzheitliche Business-Mentorin Julia Colella den Lesenden darauf, dass es hilfreich ist bei dem Ziel, resilienter zu werden, wenn man sich seine Intention kennt. Im einführenden Kapitel erklärt die Autorin die Bedeutung der Resilienz. In weiteren Kapiteln beschäftigt sie sich mit der Intuition, Körper und Geist, familiären Wurzeln, Akzeptanz und emotionalem Hunger. Einen größeren Raum nimmt das Kapitel über den Women Code ein, in dem Julia Colella die Bedeutung der Phasen des weiblichen Zykluses betrachtet. Für Männer und ältere Frauen ist dieses 32 Seiten umfassende Kapitel allein von allgemeinem Interesse. 
Die Autorin schildert offen eigene Probleme, die sie in ihrem Leben gemeistert hat. Jedes Kapitel enthält am Ende eine Nachbereitung bei der Julia Colella Denkanstöße gibt, in Form von Aufforderungen und anregenden Fragen zum Nachdenken. Neben den Anregungen im Buch geht sie stellenweise auch auf ihre Webseite „Seelenschokolade“ ein, auf der man nach der Anmeldung ein paar Videos beispielsweise zu Atemtechnik und Yoga findet.
Für mich war nicht jedes Kapitel hilfreich, aber einiges fand ich anregend. Außerdem konnte ich verschüttetes Wissen wieder freigelegen. Ich halte es vor allem dafür geeignet, sich einen Überblick über das Thema Resilienz zu verschaffen.


Montag, 16. September 2024

Rezension: Sobald wir angekommen sind von Micha Lewinsky

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Sobald wir angekommen sind
Autor: Micha Lewinsky
Erscheinungsdatum: 24.07.2024
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Leinen und Schutzumschlag
ISBN: 9783257073157
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Micha Lewinsky legt mit seinem belletristischen Debüt „Sobald wir angekommen sind“ eine Komödie vor, die im Plot die beiden Themen „Flüchten“ und „Getrennte Familie“ zusammenbringt. Das klingt nach tiefsinnigem Hintergrund und ist es auch, wird aber vom Autor auf eine amüsante und charmante Art und Weise dargeboten.

Der Protagonist Ben ist um die fünfzig Jahre alt und Vater von zwei Kindern. Seine Tochter rosa ist im Teenageralter, sein Sohn Moritz sieben Jahre jünger. Mit einer Noch-Ehefrau Marina lebt er das Nestprinzip, während er seit längerer Zeit mit der Künstlerin Julia eine Beziehung eingegangen ist. Der Krieg in Osteuropa beunruhigt ihn. Als es dort eines Tages zu strittigen Einschlägen kommt, kauft Marina spontan Flugtickets. Ben scheint geradezu erleichtert zu sein, dass die von ihm bereits lange in Betracht kommende Flucht, zu der er sich in jüdischer Tradition verpflichtet fühlt, nun endlich beginnt. Es bleibt ihm keine Zeit Julia zu kontaktieren, denn für ihn steht fest, dass die Sicherheit seiner Kinder an erster Stelle steht.

Bens liebster Schriftsteller ist Stefan Zweig. An ihm nimmt er sich ein Beispiel für eine gelungene Flucht und möchte auf seinen Spuren wandeln. Wie sein Vorbild schaut er nicht gerne genauer hin, wenn er sich einmal eine Vorstellung gebildet hat. Das entspricht seiner Erziehung, denn ihm wurde beigebracht, interessant zu sein, nicht interessiert. Eigentlich nimmt Ben sich gerne Vorbilder, jedoch nicht ohne deren Handeln vorher auf die Goldwaage zu legen. Mit Marina war er lange auf einer Welle, bevor die Geburten der Kinder ihre traute Zweisamkeit auf ein neues Niveau brachten. Jetzt bewundert er, wie Julia ihre Karriere vorantreibt. Seine Eltern sind für ihn Respektspersonen. Er ist unentschlossen, wie auch sonst häufig, um seinen erfolgreichen, betuchten Vater um Hilfe zu bitten, weil er eventuelle Konsequenzen fürchtet, ohne genau zu wissen, wie diese aussehen könnten.

Micha Lewinsky lässt seine Hauptfigur einige Erfahrungen sammeln, die Ben sich rückblickend lieber erspart hätte, wodurch der Roman aber sehr abwechslungsreich mit vielen überraschenden Wendungen gestaltet ist. Mit seinem Kinderbuch hatte Ben großen Erfolg gehabt, aber seitdem ist ihm kein großer Wurf mehr gelungen. Ihm ist bewusst, dass ihm der Antrieb fehlt, dennoch gibt es immer noch Personen in seinem Umfeld, die auf ihn bauen und in der Geschichte immer wieder Hoffnung aufkeimen lassen, dass Ben nicht verloren geht. Beim Nachdenken über einen neuen Roman und auch bei der Flucht, ist eine Sehnsucht in ihm zu spüren, jüdisch zu leben. Noch nie hat er sich so intensiv wie aktuell mit seiner Religion auseinandergesetzt.

An verschiedenen Stellen spricht der Autor sehr unterschiedliche kontroverse Sachverhalte wie beispielsweise die Klimakrise, Erziehung und Romantik an. Micha Lewinsky hat seinem Protagonisten den gleichen Beruf wie er selbst ihn ausübt als Schriftsteller und Drehbuchautor gegeben. Die Darstellung der Karriere seines Protagonisten mit Höhen und Tiefen, immer auf Erfolg hoffend und doch einem Misslingen ständig nah, ist realistisch und nachvollziehbar.

Der Roman „Sobald wir angekommen sind“ von Micha Lewinsky zeigt mit seiner Hauptfigur, wie eine angespannte Weltlage zu Verunsicherung führen kann. Mit amüsantem Unterton beschreibt er, wie der Autor und Schriftsteller Ben durchs Leben taumelt, bis er einige Erkenntnisse durch seine Flucht gewinnt, die sein Selbstvertrauen stärken. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.

Mittwoch, 11. September 2024

Rezension: Tee für die Geister von Chris Vuklisevic


Tee für die Geister
Autor: Chris Vuklisevic
Übersetzerin: Maria Hoffmann-Dartevelle
Hardcover: 464 Seiten
Erschienen am 11. September 2024

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Die in Nizza lebende Félicité ist als Geisterschleuserin tätig: Im Auftrag ihrer Klienten macht sie Geister ausfindig, die vor der Beendigung eines Satzes gestorben sind. Mit ihrem besonderen Tee, den auch Geister trinken können, bringt sie diese zum Reden und hilft ihnen hinüber. Sie stammt aus einem abgelegenen Bergdorf, in das sie gelegentlich zurückkehrt, um ihre Mutter zu besuchen. Diese ist die einzige verbleibende Bewohnerin des Dorfes und doch meist nicht anzutreffen, denn seit vielen Jahren teilt sie sich ihren Körper mit über fünfzig anderen Persönlichkeiten. In einem verzweifelten Versuch, sie zum Reden zu bringen, geht Félicité unabsichtlich zu weit – kurz stirbt ihre Mutter einen gewaltsamen Tod. Félicité will mehr über die Umstände herausfinden und informiert außerdem ihre Zwillingsschwester, zu der sie seit dreißig Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Diese führt ein Hexenleben tief im Wald, nachdem sie ihr Leben lang nur Ablehnung erfahren hat. Denn bei jedem Wort entschlüpft ihrem Mund ein Schmetterling, der Zerfall bringt, und ihre Wutanfälle bringen ungeahnte Zerstörung. 

Zu Beginn des Romans wurde ich von einem Erzähler angesprochen, der sich selbst nicht vorstellt. Er kündigte an, mir die Geschichte von zwei Schwestern zu erzählen, die Geister jagen und die mit den seltsamen Ereignissen im Bergdorf Bégoumas in Verbindung stehen, dessen Bewohner es im Jahr 1956 innerhalb eines Tages verlassen haben. Schnell wurde klar, dass mich eine rätselhafte Geschichte voller Mysterien erwartet. Die Erzählung springt in der Zeit hin und her, sodass ich parallel zu den Ereignissen rund um den Tod der Mutter von Félicité und ihrer Schwester auch mehr über die Geburt und das Aufwachsen der Zwillinge erfuhr. Diese Puzzlestücke fügen sich langsam zusammen, sodass sich das Bild einer komplexen Familiendynamik ergibt, in welcher es noch mehr außergewöhnliche Umstände gibt als zunächst gedacht.

Ich habe mich gerne auf diesen literarisch-magischen Roman eingelassen. Félicité und ihre Schwester sind Licht und Schatten. Während Félicité stets gefördert wurde und zahlreiche Klienten hat, für die sie Geister mit ihrem Tee zum sprechen bringt, ist ihre Schwester von Beginn an eine Ausgestoßene. Ihre Beziehung war und ist kompliziert und ich konnte gut nachvollziehen, dass Félicité auf der einen Seite die Nähe zu ihrem Zwilling sucht und zum anderen von deren Fähigkeiten abgestoßen wird. Ihre Schwester ist jedoch nicht die böse Hexe, die manch einer in ihr sehen will, sondern vielmehr ein tragischer Charakter, der stets Ablehnung erfahren hat. 

Auf ihrer gemeinsamen Reise erhalten die beiden die Chance, ihre Schwesternbeziehung neu zu definieren und gleichzeitig mehr über die Vergangenheit ihrer Mutter und deren Familie herauszufinden. Hier wartet so manche Überraschung, die oftmals nicht von dieser Welt scheint. Gelegentlich war mir die Geschichte etwas zu verworren. Insgesamt wurde mir ein ungewöhnlicher Familienroman mit fantastischen Elementen geboten, der ein Leseerlebnis der anderen Art bietet. Wer Lust hat, sich darauf einzulassen, der wird mit einer berührenden Geschichte voller Überraschungen belohnt, in der es so einiges zu erkunden und aufzudecken gibt.

Mittwoch, 4. September 2024

Rezension: Agency for Scandal von Laura Wood

 

Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Agency for Scandal
Autorin: Laura Wood
Übersetzerin: Petra Koob-Pawis
Erscheinungsdatum: 28.08.2024
Verlag: Fischer Sauerländer (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Klappenbroschur mit Deko-Umschlag der Erstauflage
ISBN: 9783737343893

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Die Handlung des Romans „Agency for Scandal“ von Laura Wood ist im viktorianischen England angesiedelt, in einer Zeit, zu der arrangierte Ehen keine Seltenheit sind und Angehörige des Adels darauf bedacht, nicht unter Stand zu heiraten. Einerseits sichern sie dadurch ihren Lebensstandard, andererseits bewahren sie dabei ihr Ansehen in der High Society.

Die 18-jährige Izzy Stanhope ist die Tochter eines niederen Barons, der vor zwei Jahren verstorben ist. Sein Tod hat ihr offenbart, dass die Familie verarmt ist, aber Izzy versucht, diese Tatsache vor ihrer kranken Mutter und ihrem jüngeren Bruder zu verbergen. Es ist nicht leicht für sie, jeden Monat die von ihrer Familie benötigten finanziellen Mittel zu besorgen. Einen geliebten und betuchten Mann zu heiraten, hält sie fast für unmöglich, weil sie weiß, dass sie keine „gute Partie“ ist.

Das Hobby von Izzys Vater war es, Schlösser zu knacken. Er hat ihr viele Tricks gezeigt. Ihr Können führt dazu, dass sie von der „Agency for Scandal“ angeworben wird. Die Detektei beschäftigt ausschließlich Frauen, die sich für benachteiligte Personen ihres Geschlechts der höheren Gesellschaftsschicht einsetzt und Diebstahl, Untreue, aber auch Mordfälle aufzuklären. Izzy gehört zu einem Team. Sie weiß sich geschätzt und fühlt sich wohl dabei, für Gutes einzutreten, wobei sie moralischen Überlegungen zur Seite schiebt. Als sie jedoch dabei helfen soll, das Geheimnis einer Brosche aufzuklären, sieht sie ausgerechnet den seit langem von ihr geschätzten und heimlich bewunderten Duke in die Ereignisse verwickelt.

Laura Wood findet einen Weg Romantik und Spannung auf perfekte Weise zu kombinieren. Die Geschichte wird von Izzy in der Ich-Form erzählt. Am Beginn schildert sie ihre missliche Lage und gewann meine Sympathie. Sie ist selbstbewusst und äußerst clever dabei, ihre zahlreichen Geheimnisse vor anderen zu verbergen. Aber sie hat auch oft genug Angst davor, bis hin zur Panik, dass ihr Schreckliches widerfährt, was die unterschwellige Spannung im Buch steigerte. Interessant fand ich es, dass die Autorin die Mitarbeiterinnen der Agentur mit Ecken und Kanten schildert und die Figuren nicht immer nur in Harmonie zusammenarbeiten.

Neben den Ermittlungen bindet die Autorin eine verträumte und verspielte Liebe der Protagonistin ein. Das Geplänkel von Izzy und dem von ihr Angeschmachteten bringt manche amüsante Situation. Anders als bei der im Buch erwähnten Schriftstellerin Emily Bronte wählt Laura Wood eine moderne Sprache mit der sie die Atmosphäre der damaligen Zeit realistisch wiedergibt. Die Beschreibungen von Mode, Ausstattung der Räumlichkeiten sowie kulturelle und politische Gegebenheiten lassen beim Lesen einen passenden Rahmen für die Handlung im Kopf entstehen.

Mit ihrem Genremix „Agency for Scandal“ verbindet Laura Wood spannende Ereignisse in einem vielschichtigen Ermittlungsfall mit einer Liebesgeschichte zum Dahinschmelzen. Sie hat beste Unterhaltung mit humorvollen Szenen für alle ab 13 Jahren geschrieben, die es lieben, in die vergangene Zeit der 1890er Jahre einzutauchen, Mit Izzy Stanhope agiert eine auf ihre Unabhängigkeit bedachte Frau in der damals ungewöhnlichen Welt einer weiblichen Agentur, die Skandale der höheren Gesellschaftsschicht aufklärt und dabei manchmal auch förmlich über Leichen geht. Sehr gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.


Dienstag, 3. September 2024

Rezension: Zwei in einem Leben von David Nicholls


Zwei in einem Leben
Autor: David Nicholls
Übersetzerinnen: Simone Jakob und Anne-Marie Wachs
Hardcover: 448 Seiten
Erschienen am 28. August 2024
Verlag: FISCHER Krüger
Link zur Buchseite des Verlags

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Marnie ist achtunddreißig Jahre alt und arbeitet als Lektorin in London. Die Scheidung von Neal ist schon einige Jahre her. Da sie ihren Job aus dem Homeoffice erledigt, hat sie nicht viele Sozialkontakte. Am Neujahrstag nimmt sie sich vor, wieder mehr unter Menschen zu kommen, und stimmt daher dem Vorschlag ihrer Freundin Cleo zu, sie drei Tage auf einer Wanderung  im Norden Englands zu begleiten. Mit dabei sind außer Cleo und ihrem Sohn Anthony noch Conrad und Michael. Letzterer ist Erdkundelehrer und steckt mitten in einer Scheidung. Er hat sich vorgenommen, das Land von der Irischen See bis zur Nordsee zu durchqueren und gibt sich dabei in der Gruppe wenig gesellig. Doch dann steigt der Rest der Gruppe am zweiten Tag wegen des schlechten Wetters aus, und Marnie und Michael sind plötzlich allein unterwegs. Die beiden kommen ins Gespräch und merken allmählich, dass sie vielleicht doch auf einer Wellenlänge sind.

Der Roman ist abwechselnd aus der Sicht von Marnie und Michael geschrieben, die sich über ihre gemeinsame Freundin Cleo beim Wandern kennenlernen. Während Marnie den Großteil ihrer Zeit in ihrer Londoner Wohnung verbringt, liebt Michael das Wandern und die Natur. Eher widerwillig hat er zugestimmt, dass er bei seiner Wanderung begleitet wird, und belächelt die nagelneue Funktionskleidung und die viel zu voll gepackten Rücksäcke der anderen. Er freut sich schon darauf, nach drei Tagen allein weiterzuwandern. Ich konnte mich gut in die beiden und ihre unterschiedlichen Erwartungen im Hinblick auf die Wanderung hineinversetzen.

Natürlich ist es vorhersehbar, dass es nicht bei dem ursprünglichen Plan bleibt. Marnie und Michael sind schon bald allein unterwegs. Da die beiden nicht erwarten, dass es zwischen ihnen funken könnte, gehen sie zunehmend offen und unbefangen miteinander um. Ich habe sie gerne auf ihrem Weg begleitet. Die Wanderung bietet einige unterhaltsame und auch herausfordernde Situationen, denen sie sich stellen müssen. Als Leserin war mir schnell klar, dass die beiden einander gut tun und ich hoffte mit, dass sie ebenfalls zu dieser Erkenntnis gelangen. David Nicholls bietet ein unaufgeregtes und gleichzeitig berührendes Leseerlebnis. Zum Ende hin gibt es eine unerwartete Wendung, nach welcher das Buch für meinen Geschmack etwas zu schnell zum Abschluss kommt und das weitere Schicksal der Charaktere der Fantasie der Leser:innen überlässt. Insgesamt habe ich diesen emotionalen und kurzweiligen Roman sehr gern gelesen und mit Marnie und Michael die Wanderwege Nordenglands und die Frage, was das Leben noch für sie bereithalten könnte, erkundet.


Freitag, 30. August 2024

Rezension: Blue Sisters von Coco Mellors


Blue Sisters
Autorin: Coco Mellors
Übersetzerin: Lisa Kögeböhn
Hardcover: 443 Seiten
Erschienen am 30. August 2024

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Die Schwestern Avery, Bonnie, Nicky und Lucky Blue sind in New York in einer Drei-Zimmer-Wohnung aufgewachsen. Ihre Mutter hat sich mehr um den alkoholkranken Vater gekümmert als um die Schwestern, weshalb Avery als Älteste diese Rolle ausgefüllt hat, bevor sie mit 19 ausgezogen und einige Zeit untergetaucht ist. Als Nicky mit Mitte 20 stirbt, erschüttert das die Leben der anderen Schwestern in ihren Grundfesten. An Nickys erstem Todestag verkündet ihre Mutter, dass die die Wohnung in New York, in der zuletzt nur noch Nicky lebte, verkaufen zu wollen. Die drei Schwestern, die über den Globus verteilt sind und zuletzt nur sporadisch Kontakt pflegen, müssen sich entscheiden, ob sie noch einmal in die Wohnung zurückkehren und Nickys Sachen durchsehen möchten. 

Nach einem kurzem Prolog, der mir in aller Kürze einen Überblick gab, wer die einzelnen Schwestern sind und was sie bislang erlebt haben, beginnt die Geschichte an Nickys erstem Todestag. Die Kapitel sind abwechselnd aus den Perspektiven von Avery, Bonnie und Lucky geschrieben, sodass ich die Gelegenheit hatte, jede von ihnen besser kennenzulernen. 

Die drei haben alle mit ihren ganz eigenen Problemen zu kämpfen. Avery ist Anwältin und lebt mit ihrer Frau Chiti in London. Nachdem sie in ihren Zwanzigern eine Weile heroinabhängig war und auf der Straße lebte ist sie seit mehreren Jahren clean und hat Karriere gemacht. Doch Chtis Kinderwunsch wird immer größer und Avery weiß nicht, ob sie Mutter sein will. Bonnie war eine erfolgreiche Profiboxerin, bevor sie kurz nach Nickys Tod einen Kampf verloren und ihre Karriere beendet und den Kontakt zu Pavel, der sie jahrelang trainiert hat, abrupt abgebrochen hat. Jetzt arbeitet sie als Türsteherin. Lucky ist ein erfolgreiches Model, doch ihre zunehmend ausschweifenden Alkohol- und Drogenexzesse machen sie unzuverlässig und ihre Agentur droht, sie fallenzulassen.

Es gibt also einiges an Erzählstoff und ich war neugierig, wie sich die Leben der Drei weiter entwickeln werden. Nickys Tod hat sie alle erschüttert, aber ansonsten sieht es zunächst nicht so aus, als würden die Geschichten der Schwestern zusammenfinden, von einzelnen Telefonaten abgesehen. Das ändert sich jedoch im Laufe der Geschichte. Bis dahin durchlebte ich mit den Charakteren Ups and Downs bei ihren Versuchen, die Kontrolle über ihr Leben zu behalten. Für meinen Geschmack nahm das Thema Drogen und Sucht dabei einen etwas zu großen Teil ein, ich hätte mir hier noch mehr unterschiedliche Themen gewünscht. Insgesamt hat mir der einfühlsame Ton der Geschichte gefallen. Ich fand es interessant zu beobachten, wie sich das Verhältnis der Schwestern zueinander verändert und sie sich schließlich gegenseitig Kraft geben können, um trotz der erlebten Verluste ihren Weg weiterzugehen. Ein Roman für alle, die in eine emotionale und moderne Familiengeschichte eintauchen möchten.


Donnerstag, 29. August 2024

Rezension: Das größte Rätsel aller Zeiten von Samuel Burr

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Das größte Rätsel aller Zeiten
Autor: Samuel Burr
Übersetzer: Karl-Heinz Ebnet
Erscheinungsdatum: 13.08.2024
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband
ISBN: 9783832182236
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Vor der Villa, in der einige Rätselmacher*innen in Bedfordshire leben, findet eine von ihnen an einem Tag im Jahr 1991 auf den Eingangsstufen eine Hutschachtel, in der ein Baby abgelegt ist. So beginnt der Roman „Das größte Rätsel aller Zeiten“ von Samuel Burr. Die Finderin Pippa Allsbrooks ist zu diesem Zeitpunkt 64 Jahre alt. Für sie erfüllt sich mit dem Fund ein Herzenswunsch. Den Jungen nennt sie Clayton mit Vornamen und er erhält den Nachnamen Stumper, weil es eine knifflige Frage ist, wer ihn vor der Haustür abgelegt hat.

Clayton ist 25 Jahre alt, als seine Ziehmutter stirbt. Er ist im behüteten Umfeld der etwa acht Rätselmacher aufgewachsen, die inzwischen alle im betagten Alter sind. Pippa hat ihm nie verraten, wer seine Eltern sind, für ihn ist das, entsprechend dem Buchtitel, das größte Rätsel aller Zeiten. Pippa vermacht ihm ein von ihr über Monate hinweg geplantes, mehrstufiges Rätsel. Um die Lösungen zu finden, von denen er hofft, dass sie ihm letztlich seine Herkunft offenbaren, muss er sich zum ersten Mal im Leben allein auf den Weg begeben. Die Rätselmacher waren beim Aufwachsen von Clayton immer an seiner Seite und daher erzählt der Autor in einem zweiten Handlungsstrang davon, wie es dazu kam, dass Pippa die Gemeinschaft gegründet hat und alle zusammen in einem Haus leben.

Neben Pippa und Clayton als Hauptfiguren, hat Samuel Burr eine Reihe weiterer liebenswerter Rätselmacher geschaffen, die alle Ecken und Kanten besitzen. Sie sind bei der von ihnen gewählten oder entwickelten Form von Rätseln wahre Meister. Beispiele unterschiedlicher Art zu Knobeleien gibt es im gesamten Roman, sei es ein Kreuzworträtsel, ein Labyrinth, aber auch ein Gitterrätsel. Wer möchte, kann miträtseln, wer sich lieber dem Sog der Geschichte hingibt, kann sich über kurz oder lang die Lösungen erlesen.

In der Vergangenheit hatten die Hausbewohner mit unterschiedlichen Sorgen zu kämpfen, vor allem fehlten finanzielle Mittel für Reparaturen. Im Laufe der Zeit entwickelte sich über einen respektvollen Umgang miteinander ein freundschaftliches Gemeinschaftsgefühl. Das Stillschweigen über bestimmte Angelegenheiten bereitet in dieser Zeit ein großes Problem. Offene Gespräche bewähren sich als friedensstiftend und lösungsgebend.

Pippa ist intelligent und beharrlich. Sie weiß genau, an welchen lebenswichtigen Fertigkeiten es Clayton mangelt. Durch ihre Rätsel führt sie ihn genau an solche Orte, an denen er fehlende Kompetenzen. Clayton lernt auf diese Weise ständig neue Seiten an sich kennen und entdeckt bisher ungeübte Gefühle. Beide Figuren wurden mir sympathisch.

Der Roman „Das größte Rätsel aller Zeiten“ von Samuel Burr ist eine einfühlsam geschriebene Geschichte über eine Gemeinschaft von Rätselmachern und dem verständnisvollen Umgang miteinander, über Freundschaft und Selbstfindung. Ungewöhnlich sind die Rätsel zum Mitdenken, die der Protagonist zu lösen hat, um seine Herkunft zu klären und die von Beginn an für eine anhaltend hintergründige Spannung sorgen. Gerne empfehle ich das Buch weiter. 

Mittwoch, 28. August 2024

Rezension: Das Wesen des Lebens von Iida Turpeinen


Das Wesen des Lebens
Autorin: Iida Turpeinen
Übersetzer: Maximilian Murmann
Hardcover: 320 Seiten
Erschienen am 28. August 2024
Verlag: S. FISCHER Verlage
Link zur Buchseite des Verlags

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Im Jahr 1741 begeben sich zwei Schiffe von der Küste Kamtschakas zu einer Forschungsreise auf, um die Küste Amerikas zu erkunden. An Bord der "Swjator Pjotr", dessen Kapitän Vitus Bering ist, befindet sich auch der Naturforscher Georg Wilhelm Steller. Er möchte möglichst viele neue Tiere und Pflanzen entdecken. Doch die Zeit auf amerikanischem Boden ist kurz, und die Rückreise gestaltet sich als schwierig. Die verbleibende Mannschaft strandet auf einer unbewohnten Insel und harrt dort monatelang aus. Vor Ort entdeckt Steller gewaltige, friedliche Seekühe. Aus Forschersicht ist es ein spannender Fund, für die schiffbrüchige Mannschaft aber vor allem eine sehr gute Nahrungsquelle. Rund hundert Jahre später ist Stellers Seekuh eine Legende, die seit Jahrzehnten niemand mehr gesehen hat. Der Wunsch ist groß, wenigstens ein Skelett zu finden, um zu belegen, dass die Art tatsächlich existiert hat. Ihr Schicksal ist nur eins von vielen Arten, die unter Beteiligung des Menschen ausgestorben sind.

Das Cover erinnert mich ein wenig an "Das Jahr des Dugong" von John Ironmonger und ich erwartete eine Geschichte, die sich ähnlich wie die Bücher des besagten Autors mit den Folgen des menschlichen Handelns auf die Natur beschäftigt. Den Rahmen des Debütromans von Iida Turpeinen bildet das Skelett von Stellers Seekuh, das heute im naturhistorischen Museum von Helsinki zu sehen ist. Die Autorin nahm mich als Leserin mit ins Jahr 1741 ihrer Entdeckung durch den Naturforscher Steller. 

Es gibt keine Dialoge, sondern eine allwissende Erzählstimme, die mich mit durch die Jahrzehnte nahm. Aus meiner Sicht befindet sich der Roman damit an der Grenze zum erzählenden Sachbuch. Nach der Forschungsreise im Jahr 1741 gibt es im zweiten Teil einen Sprung  ins Jahr 1859, wo der neue Gouverneur von Alaska gebeten wird, nach dem Skelett der Seekuh zu suchen. Auch im Jahr 1861 und in den 1950er Jahren lernte ich Charaktere kennen, deren Lebensweg mit dem der Seekuh verbunden ist. Durch die Erzählweise erfuhr ich viel Wissenswertes, baute zu den Charakteren aber keine engere Beziehung auf und erlebte Momente, in welcher sich die Geschichte etwas in die Länge zog.

Das Buch zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie der Mensch dazu beiträgt, dass Tierarten aussterben. War man früher noch der Überzeugung, dass lang nicht gesichtete Tiere sich neue Lebensräume gesucht und bloß nicht gefunden wurden, hat erst allmählich die Erkenntnis eingesetzt, wie groß und endgültig der menschliche Einfluss hier ist. Stellers Sehkuh ist dabei ein gutes Beispiel, deren Schicksal ins Nachdenken bringt. Auch das Aussterben anderer Arten wird thematisiert, im letzten Teil gibt es zum Beispiel Einblicke in die Konsequenzen des Trends im 20. Jahrhundert, Vogeleier zu sammeln und auszupusten, wodurch ebenfalls Arten ausgestorben sind. Insgesamt ist "Das Wesen des Lebens" ein gelungener Roman rund um das Thema des Aussterbens der Arten und wie das Forschungs-, Jagd- und Sammelverhalten des Menschen dazu seit mehreren Jahrhunderten beiträgt.

Dienstag, 27. August 2024

Rezension: Stalker - Er will dein Leben. von Arno Strobel

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Stalker - Er will dein Leben.
Autor: Arno Strobel
Erscheinungsdatum: 28.08.2024
rezensierte Buchausgabe: Paperback mit Klappen
ISBN: 9783596709236
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In seinem Psychothriller „Stalker“ spielt Arno Strobel erneut mit den Nerven seiner Leserschaft. Spannungsaufbauend erweitert er den Titel des Buchs mit „Er will dein Leben“, was heißt, dass ein anderer danach trachtet, die Identität des Protagonisten zu übernehmen. Die Geschichte beginnt eher ruhig und scheint aus dem alltäglichen Leben gegriffen. Doch sie enthält mehr Potential, als ein Blick durch die Jalousien eines Fensters ermöglichen würde, wie es versinnbildlichend auf dem Cover dargestellt ist.

Eric Sanders ist 44 Jahre alt, verheiratet und hat einen elfjährigen Sohn. Er ist am Münchner Residenztheater als Schauspieler angestellt. Mit einer Hauptrolle im Tatort erhofft er sich den großen Durchbruch in seinem Beruf, an den seine Frau allerdings nicht recht glauben will.

Nachdem die Sendung ausgestrahlt wurde, steigen die Followerzahlen auf seinen Social Media Kanälen in die erhofften Höhen. Doch bereits Stunden später versteht Eric die Welt nicht mehr, denn jemand beantwortet von einem Fakeprofil mit seinem Namen aus die zahlreichen Kommentare unter seinen Posts und tritt dabei angeberisch auf. Noch mehr verwirrt ist Eric, als der Kommentierende ihm eine Mail schickt und behauptet, genauso wenig der echte Eric Sander zu sein, wie er.

Zeitgleich zu diesem Geschehen befindet Eric sich in therapeutischer Behandlung, denn immer wieder träumt er nachts von dem großen Feuer in seiner Kindheit, bei dem seine Eltern ums Leben kamen. Anschließend wuchs er bei seinen Großeltern auf. Wie gewohnt, zieht der Autor langsam das Tempo der Spannung an, bis derjenige, der sich für Eric ausgibt, sich weiter erfolgreich in dessen Leben drängt. Auf einmal stehen sämtliche Erinnerungen von Eric an seine Kindheit auf dem Prüfstand.

Eric war mir am Anfang sympathisch. Ich habe ihm seinen Erfolg als Schauspieler gegönnt. Er hatte mein Mitgefühl in Bezug auf den Verlust seiner Eltern. Ich empfand es als beängstigend, wie einfach es ist, mittels eines gefakten Profils sich als ein anderer auszugeben und damit erheblichen Schaden an dessen Image ausrichten zu können. Eric erhält von Bekannten einige Vorschläge gegen die Internethetze vorzugehen. Auch die Polizei schaltet er ein. Doch der Unbekannte lässt nicht locker; die subtilen Drohungen nehmen zu und veranlassen Eric zu handeln. Es gelingt leicht, sich in die Situation hineinzudenken und die Handlungen und Gefühle des Protagonisten nachzuvollziehen.

Die Geschichte kam an einen Punkt, bei dem ich glaubte, die Lösung fassen zu können, aber das wäre bei einem Thriller von Arno Strobel zu einfach. Erneut gibt es unerwartete Wendungen und ein Ende, dass ich mir so zu keinem Zeitpunkt denken konnte. Warum ich Eric schließlich nicht mehr mochte, werden alle nachvollziehen können, wenn sie das Buch selber lesen.

Der Psychothriller „Stalker“ von Arno Strobel baut von Beginn an Spannung auf, die anhält und zum Ende hin nochmal steigt. Erneut bietet der Autor mit dem extremen Belästigen und Beschuldigen anderer in den Sozialen Medien ein aktuelles, ansprechendes Thema als Hintergrund, das viele Lesende gut nachempfinden können. Gerne vergebe ich dafür eine unbedingte Leseempfehlung an alle Thriller-Fans.

Samstag, 24. August 2024

Rezension: Das größte Rätsel aller Zeiten von Samuel Burr


Das größte Rätsel aller Zeiten
Autor: Samuel Burr
Übersetzer: Karl-Heinz Ebnet
Hardcover: 448 Seiten
Erschienen am 13. August 2024
Verlag: DuMont Buchverlag
Link zur Buchseite des Verlags

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Im Jahr 1991 findet Pippa Allsbrook, die Gründerin der Gemeinschaft der Rätselmacher, vor ihrem Haus in Bedfordshire ein Findelkind in einer Hutschachtel. Fünfundzwanzig Jahre später hegt Clayton, das besagte Findelkind, den Wunsch, endlich mehr über seine Herkunft herauszufinden. Die kürzlich verstorbene Pippa hat ihm dazu Hinweise in Rätselform hinterlassen. Um diesen zu folgen, muss er zu einem Abenteuer aufbrechen und sich allein auf den Weg nach London machen. Was wird er am Ende dieses Weges finden?

In einem kurzen Prolog wurde ich Zeugin, wie Clayton von der vierundsechzigjährigen Pippa vor dem Haus der Gemeinschaft der Rätselmacher gefunden wird. Im nächsten Kapitel fand ich mich auf ihrer Trauerfeier im Jahr 2016 wieder, wo der inzwischen erwachsene Clayton auf Antworten seine Herkunft betreffend hofft. Und ein weiterer Erzählstrang brachte mich gleich im Anschluss ins Jahr 1979 zum Gründungstreffen der Gemeinschaft der Rätselmacher. Meine Neugier, mehr über die Charaktere und ihren Weg zu erfahren, war geweckt.

Im weiteren Verlauf wird die Geschichte abwechselnd auf zwei Zeitebenen erzählt. Auf der gegenwartsnahen Ebene begleitete ich Clayton dabei, der Spur aus Hinweisen in Rätselform zu folgen, die Pippa ihm vor ihrem Tod hinterlassen hat, damit er mehr über seine Herkunft herausfinden kann. Für Clayton, der den Großteil seines Lebens wohlbehütet im Haus der Gemeinschaft der Rätselmacher verbracht hat, ist diese Reise etwas Außergewöhnliches, für die er seinen ganzen Mut zusammennehmen muss. Dabei macht er neue Bekanntschaften und erlebt so manche Überraschung. Clayton ist ein empathischer und sensibler Charakter, dessen Entwicklung ich sehr gerne verfolgt habe. Eine queere Liebesgeschichte fügt sich gelungen ins Geschehen ein.

Auf der Handlungsebene der Vergangenheit erfuhr ich mehr über die Gemeinschaft der Rätselmacher von ihrer Gründung bis zu dem Moment, in dem Clayton von Pippa gefunden wird. Hier gibt es zahlreiche Zeitsprünge, die mich mit durch die Jahrzehnte und zahlreiche Höhen und Tiefen nahmen. Die Gemeinschaft ist eine bunte Mischung aus ganz verschiedenen, etwas schrulligen, aber allesamt auf ihre Art liebenswürdigen Charakteren. 

Es gibt viele schöne, aber auch einige nachdenklich stimmende Momente, zum Beispiel im Hinblick auf Themen wie das eines unerfüllten Kinderwunsches und der Verarbeitung von Verlusten. Das Erzähltempo ist relativ ruhig, was mich in diesem Fall aber nicht störte. Die Geschichte war für mich wie ein Besuch bei lieben Freunden, bei der ich mich rundum wohl fühlte und gar nicht wollte, das sie endet. Sehr gerne empfehle ich den Roman weiter.

Rezension: Pi mal Daumen von Alina Bronsky

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Pi mal Daumen
Autorin: Alina Bronsky
Erscheinungsdatum: 15.08.2024
Verlag: Kiepenheuer & Witsch (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband
ISBN: 9783462004250
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Für den Protagonisten Oscar des Romans „Pi mal Daumen“ von Alina Bronsky ist Mathematik keine Angelegenheit, bei der sich entsprechend der Redewendung des Buchtitels Ergebnisse nur ungefähr berechnen lassen. Das Zeichen für Pi, dass in der Mathematik für das Verhältnis vom Kreisumfang zu seinem Durchmesser steht, ähnelt dem von Doppelkirschen, weswegen auf dem Cover eine Frau für ebensolchen Kirschen als Ohrringe illustriert ist und einen Kirschkern ausspuckt. Diese Frau erinnerte mich beim Lesen an Moni Kosinsky, die im Roman ebenfalls eine tragende Rolle spielt. Der Zusammenhang zwischen dem Pi-Symbol und den Kirschen wird auch im Spruch „Come to the Math Side we have π“ deutlich, wobei das Zeichen wörtlich genommen und dem beliebtem Cherrypie (amerikanischer Kirschkuchen) gleichgesetzt wird.

Oscar Maria Wilhelm Graf von Ebersdorff ist ein Nerd der Mathematik und eher als nicht neurotypisch anzusehen. Er stammt aus einer betuchten Familie und ist bei Studienbeginn gerade mal sechszehn Jahre alt. Er ernährt sich vegan und liebt Anime, die der Grund dafür sind, dass er seine Haare blau färbt. Einen extremen Gegensatz zu ihm ist Moni, denn sie ist ein Familienmensch und hat ein großes Herz für alle, die ihre Hilfe benötigen. Moni ist 53 Jahre alt, trägt auffälligen Lippenstift und Leopardenmuster. Niemand aus der Familie darf von ihrem Studium wissen. Oscar und Moni lernen sich am ersten Tag des Semesters kennen und bilden fortan eine Zweckgemeinschaft. Obwohl sie sich zu Beginn einander anders eingeschätzt haben, wissen sie ihre Eigenarten bald gegenseitig zu schätzen.

Der Roman wird aus der Sicht von Oscar erzählt. Durch sein zunehmendes Interesse am familiären Hintergrund von Moni konnte auch ich als Leserin mehr über die manchmal chaotischen Zustände im Umfeld der Protagonistin erfahren. Oscar zeichnet sich zur besseren Übersicht einen Stammbaum, der auf den Vorsatzseiten des Buchs abgebildet ist. Während Oscar einiges an Organisationsgeschick aufweist, punktet Moni mit ihrer Lebenserfahrung. Irritierend fand ich die Einstellung von Monis Vater über die Intelligenz seiner Kinder, die ich der damaligen Zeit geschuldet zuschreibe.

Die Autorin bedient einige gängige Klischees und stellt manche Situation überspitzt dar. Aus meiner eigenen Schul- und Studienlaufbahn konnte ich in ihren Figuren, seien es Studierende, Lehrende oder Familienmitglieder Ähnlichkeiten zu mir bekannten Personen feststellen. Feine Ironie zieht sich durch den ganzen Roman und bildet zu den Sorgen und Ängste der Hauptfiguren ein Gegengewicht. Über allem steht die Botschaft, dass es nie zu spät ist, sich Herzenswünsche zu erfüllen. Außerdem verdeutlicht die Erzählung, dass man andere nicht unterschätzen und ihnen Talent absprechen sollte. Das Ende fand ich zum eigenen Weiterdenken anregend.

Gewohnt leichtfüßig schreibt Alina Bronsky in ihrem Roman „Pi mal Daumen“ über einen ungewöhnlichen Studenten des Erstsemesters Mathematik, der zu Studienbeginn ein weibliches Pendant findet. Humorvoll und teils übersteigert schildert sie, wie die beiden sich anfreunden, auch weil sie sich mit ihren jeweiligen Eigenschaften ergänzen. Die Geschichte untermalt das Statement sich zu trauen, große Träume zu haben und sie sich zu erfüllen, egal in welchem Alter. Wenngleich in der Geschichte immer wieder mathematische Themen angesprochen werden, ist deren Verständnis für die Botschaft der Erzählung nicht notwendig. Daher empfehle ich den Roman uneingeschränkt weiter. 



Donnerstag, 22. August 2024

Rezension: Genau so, wie es immer war von Claire Lombardo

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Genau so, wie es immer war
Autorin: Claire Lombardo
Übersetzerin aus dem Englischen: Sylvia Spatz
Erscheinungsdatum: 15.08.2024
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband
ISBN: 9783423284172
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In ihrem Roman „Genau so, wie es immer war“ beschreibt Claire Lombardo nach ihrem Debüt „Der größte Spaß, den wir je hatten“ erneut ein familiäres Drama rund um ihre Protagonistin Julia Grace Ames, geborene Marini. Julia möchte am 60. Geburtstag ihres Ehemanns Mark eine Party veranstalten, wozu sie eine spezielle Zutat zum Dinner benötigt. Es hat für sie weitreichende Folgen, dass sie zu einem anderen Supermarkt fährt als dem üblichen, denn dort begegnet sie Helen, einer früheren Freundin. Das unerwartete Treffen löst bei Julia Erinnerungen aus an Ereignisse, die zwanzig Jahre und länger zurück in ihrer Vergangenheit liegen.

Die Geschichte spielt auf mehreren Zeitebenen und ist in einer personalen Erzählperspektive geschrieben. In der Gegenwart steht Julias 17-jährige Tochter Alma kurz vor ihrem Highschool Abschluss, als ihr älterer Bruder Ben die Familie mit einer erfreulichen Nachricht überrascht. Julia lebt einen geregelten Alltag, aber die Begegnung mit Helen, die Teenagersorgen der Tochter und die Veränderung in Bens Leben bringen ihre Routinen aus dem Gleichgewicht, genau so, wie es vor langer Zeit schon einmal geschehen ist. Die Kapitel des Romans springen zwischen den Handlungsebenen.

Die Stärke der Geschichte basiert darin, dass die Autorin ihre Figuren sehr gut ausformuliert, die Interesse beim Lesenden wecken. In den Rückblenden erfuhr ich, warum Julias Kontakt zu Helen abgebrochen ist. Aber erst als ich zunehmend mehr Einzelheiten aus der Kindheit der Protagonistin erfuhr, konnte ich die Beweggründe zu den Handlungen der Protagonistin vor zwanzig Jahren besser verstehen.

Bevor Julia Mark durch Zufall kennenlernte hatte sie mehrere Jahre für sich allein gelebt. Sie war es gewohnt, Entscheidungen selbst zu treffen, was auch ein Ergebnis ihrer Erziehung ist. Julia wurde durch eine angespannte Beziehung zu ihrer Mutter geprägt, aus der sie mitgenommen hat, dass sie gelegentlich nicht deren Wertansprüchen entsprach. Es war nicht einfach für sie, sich am Beginn ihrer Ehe mit ihrem Mann über bestimmte Angelegenheiten abzusprechen. Sie neigt dazu, sich vergleichsweise lange Gedanken zu Sorgen zu machen, die nicht die ihren sind. Indem sie Kontakte meidet, verhindert sie, sich mit Problemen anderer zu beschäftigen. Von Beginn an schaut sie argwöhnisch auf die besten Freunde von Mark, dadurch bleibt immer ein Stück Misstrauen in ihrem Verhältnis. Nach der Geburt ihres Sohns fällt ihr der Umgang mit anderen Müttern nicht einfach. In Helen findet sie zu dieser Zeit eine mütterliche Ratgeberin, deren Selbstbewusstsein sie bewundert. Ihre neue, einige Jahre ältere Freundin weckt in ihr Gefühle, in denen sie nicht geübt ist.  

Claire Lombardo schreibt abwechslungsreich, denn im Leben ihrer Protagonistin geschehen immer wieder unerwartete Begebenheiten. Julia als Kind, Teenager, Ehefrau und Mutter erlebt Situationen, die vermutlich viele Lesende wiedererkennen, was sie mir nahbar machte. In Diskursen erlebt man, dass es oft unterschiedliche Meinungen über ein Thema gibt ohne eine beste Lösung.

Der Roman „Genau so, wie es immer war“ von Claire Lombardo konnte mich im gleichen Maß begeistern wie ihr Debüt. Tiefgründig und feinsinnig beschreibt die Autorin die Gefühlswelt ihrer Protagonistin Julia, die es gelernt hat, sich nach einer schwierigen Kindheit einen Weg im Leben zu suchen und an den Anforderungen des Lebens gereift ist. Einige Twists und wohlgehütete Geheimnisse sorgen für eine hintergründige Spannung. Sehr gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.


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