Donnerstag, 30. August 2018

[Rezension Hanna] Slow Horses - Mick Herron


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Slow Horses
Autor: Mick Herron
Übersetzerin: Stefanie Schäfer
Hardcover: 480 Seiten
(Das Foto zeigt das TB-Leseexemplar)
Erscheinungsdatum: 29. August 2018
Verlag: Diogenes
Link zur Buchseite des Verlags

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Slough House, das ist das Abstellgleis für MI5-Agenten, die aus irgendeinem Grund ihre Karriere vermasselt haben. River Cartwright ist einer der Slow Horses, die so unspannende Dinge tun wie Unterlagen auf der Suche nach verdächtigen Zusammenhängen zu durchforsten. Er ist fest davon überzeugt, nur bei der Truppe gelandet zu sein, weil man ihn hereingelegt hat. Als ein pakistanischer Jugendlicher entführt wird mit der Drohung, ihn nach achtundvierzig Stunden zu enthaupten, wittern die Slow Horses ihre Chance auf Ruhm und Rehabilitation. Durch ihre Nachforschungen stolpern sie mitten hinein in ein gefährliches Netz aus Lügen und Fanatismus.

Die Slough House-Reihe von Mick Herron umfasst im englischen Original bereits fünf Bände – jetzt ist der erste Teil der Agentenserie auch auf Deutsch verfügbar. Im ersten Kapitel lernt man River Cartwright und seine Geschichte kennen, die ihn zu den Slow Horses gebracht hat. Er ist bei seiner Aufstiegsprüfung beim MI5 ist spektakulär gescheitert. Immer wieder durchlebt er die fatalen Momente und ist sich sicher, dass alles nur passiert ist, weil ein Kollege ihm falsche Informationen hat zukommen lassen. Doch dafür gibt es keine Beweise, und so sitzt er wie die anderen Slow Horses im Slough House fest.

Zu Beginn nimmt sich das Buch Zeit, die insgesamt acht Slow Horses und ihren Chef Jackson Lamb vorzustellen. Jeder von ihnen hat seine eigene Geschichte, die ihn an diesen Ort gebracht hat. Der IT-Spezialist Roderick Ho kennt sie alle bis auf zwei. Und während sich einige mit ihrem Dasein im Slough House abgefunden haben, wollen andere um jeden Preis wieder zurück in die MI5 Zentrale am Regent’s Park. Die Ausführlichkeit, mit der die Charaktere vorgestellt werden, weckte den Eindruck, dass hier schon früh alles für eine mehrbändige Story vorbereitet wird. Es dauerte eine Weile, bis ich mir einen Überblick verschafft hatte und endlich Bewegung in die Sache kam.

Im Fall des entführten Jugendlichen, der die Nation vor die Bildschirme fesselt, wollen einige Slow Horses unbedingt mitmischen. Sie haben eine Idee, wo sie dazu ansetzen können. Doch damit bringen sie sich selbst mitten in die Schusslinie. Viele Charaktere verfolgen ihre eigene Agenda und sind bereit, dafür einiges in Kauf zu nehmen. Nach dem ruhigen Start nimmt die Geschichte zunehmend an Tempo auf.

Mir hat es Spaß gemacht, die Slow Horses zu begleiten. Sie sind keine glattgestriegelten Agenten, sondern haben alle ihre Macken und Eigenheiten. Trotzdem arbeiten sie nach wie vor für einen Zweig des MI5 und haben einiges auf dem Kasten. Deshalb laufen Dinge mal so richtig schief, und mal sind sie absolut in ihrem Element. Eine gelungene Mischung, die für unvorhersehbare Entwicklungen sorgt. Mit der Zeit wird immer klarer, was eigentlich hinter dem Fall steckt. Neue Erkenntnisse und Zwischenfälle lassen die Handlung wiederholt die Richtung wechseln, sodass ich bis zum spannenden Schluss neugierig blieb und schließlich Antworten auf alle drängenden Fragen erhielt.

In „Slow Horses“ lernt man die gleichnamige Truppe ausrangierter MI5-Agenten kennen, die hauptsächlich Aktenkram erledigen. Eine aufsehenerregende Entführung bringt einige von ihnen auf den Plan, durch eine Lösung des Falls ihren Ruf wieder herzustellen. Nach einem ruhigen Start mit einer ausführlichen Vorstellung der Charaktere konnte mich die Handlung zunehmend fesseln. Ein gelungener Reihenauftakt für alle, die Lust auf einen ganzen Haufen nicht so perfekter, aber ambitionierter Agenten in Aktion haben.

[Rezension Ingrid] Manhattan Beach von Jennifer Egan


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Titel: Manhattan Beach
Autorin: Jennifer Egan
Übersetzer: Henning Ahrens
Erscheinungsdatum: 29.08.2018
Verlag: S. Fischer (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen
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Titel und Cover des Romans „Manhattan Beach“ von Jennifer Egan verrieten mir als Leser schon den Ort, an dem die Geschichte mich hinführen würde, als ich das Buch zum ersten Mal in die Hand nahm. Im Hintergrund des Umschlagfotos ist die Skyline von Manhattan zu sehen, Manhattan Beach jedoch befindet sich am südlichen Ende von Brooklyn. Es ist der Schauplatz des ersten Kapitels mit einem Treffen der drei Protagonisten in den 1930er Jahren, welches das Leben von jedem von ihnen nachhaltig verändern wird. Ein Interview mit Jennifer Egan, das dem Roman vorweg gestellt wird, lieferte mir nicht nur Informationen zur Entstehung des Buch, sondern auch Fotos, die die Fakten im Buch ergänzten.

Im Mittelpunkt des Romans stehen Anna Kerrigan, ihr Vater Eddie und dessen neuer Arbeitgeber Dexter Styles, dem Chef mehrerer Nachtclubs. Als Jugendliche begleitet Anna ihren Vater häufig bei seinen Lieferungen von Umschlägen mit wichtigem Inhalt. Nur sehr knapp kommt die Familie mit dem Lohn zurecht, die Mutter verdient als Näherin einiges dazu. Anna hat eine jüngere schwer behinderte Schwester, die viel Aufmerksamkeit benötigt. Als sie fast dreizehn Jahre alt ist verschwindet Eddie spurlos. Ihr Studium bricht sie ab, um ihren Beitrag zum Kriegsdienst des Zweiten Weltkriegs zu leisten. Sie arbeitet bei der Brooklyner Marinewerft und überprüft dort kleine Maschinenteile. Doch ihr großer Traum ist es, sich den Tauchern der Marine anzuschließen, die sie in ihren Pausen bei Reparaturen an Schiffen beobachten kann. Eigentlich ist der Beruf nur Männern vorbehalten, doch viele von ihnen sind im Krieg, darin sieht sie ihre Chance. Mit einer Freundin besucht sie abends einen Club, in dem sie Dexter auffällt. Zwischen beiden entwickelt sich eine ganz besondere Beziehung.

Jennifer Egan hat mit Anna eine starke Frauenfigur geschaffen, die mutig und unbeirrt ihren Weg geht und sich dabei den Widrigkeiten ihrer Zeit stellt. Bei ihren Recherchen war es der Autorin möglich, selbst einmal einen der damaligen Tauchanzüge anzuziehen, so dass ihre Beschreibungen rund um den Tauchvorgang authentisch wirken. Anna verfolgt aber nicht nur entschlossen ihren Traum, sondern zeigt im Umgang mit ihrer schwer behinderten Schwester auch ihre mitfühlende Seite. Einen weiteren Kontrast hierzu zeigt die Autorin indem sie ihre Protagonistin am Nachtleben von New York teilnehmen lässt. Hier trifft sie auf zwielichtige Gestalten. Schon durch Eddie und Dexter wurde ich in die Welt der Schwarzmarktgeschäfte, der Kleinkriminellen und des organisierten Verbrechens mitgenommen.

Das Geschehen geht einher mit der Geschichte New Yorks vor, während und nach dem 2. Weltkrieg. Einiges beschreibt die Autorin sehr detailreich. Es gelingt ihr trefflich, ein vorstellbares Bild der Ereignisse zu schaffen. Bald standen die beiden Fragen im Raum, warum Eddie verschwunden ist und ob Anna ihren Traum verwirklichen kann, die nach raschen Antworten verlangten. Dennoch konnte mich die Erzählung nicht mitreißen, was vielleicht daran lag, dass die Handlung zwischen den Protagonisten immer wieder wechselt, auch auf unterschiedlichen Zeitebenen. Der Schluss war für mich nicht wirklich stimmig.

„Manhattan Beach“ erzählt einen historischen Zeitabschnitt aus einer neuen Sicht mit einer heldenhaften Protagonistin. Die Autorin überzeugt mit bewegenden Hintergrundgeschichten und einer unvoreingenommenen Sicht auf die Ereignisse, die sie in ihrer klaren Sprache einfängt. Gerne empfehle ich den Roman daher weiter.

Mittwoch, 29. August 2018

[Rezension Hanna] Der Abgrund in dir - Dennis Lehane


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Der Abgrund in dir
Autor: Dennis Lehane
Übersetzer: Steffen Jacobs und Peter Torberg
Hardcover: 528 Seiten
(Das Bild zeigt das TB-Leseexemplar)
Erscheinungsdatum: 29. August 2018
Verlag: Diogenes
Link zur Buchseite des Verlags

Ingrids Rezension zum Buch ->Klick!
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Rachel Childs ist eine aufstrebende Reporterin mit einem tollen Partner und einer schönen Wohnung. Doch eine Sache lässt sie nicht los: Sie will herausfinden, wer ihr Vater ist. Ihre verstorbene Mutter hat ihr jedoch kaum Informationen hinterlassen, sodass der angeheuerte Privatdetektiv Brian Delacroix die Suche von Beginn an als eher aussichtslos beschreibt. Schließlich erhält sie die große Chance für ihre Reporter-Karriere. Doch ein Moment ändert alles und Rachels bisheriges Leben zerbricht. Ein Mann baut sie schließlich Stück für Stück wieder auf. Doch was weiß sie wirklich über ihn?

Zu Beginn des Buches lernt man Rachel als beruflich erfolgreiche Frau kennen, welche die Suche nach ihrem Vater nicht loslässt. Ihre promovierte Mutter hat einen berühmten Beziehungsratgeber geschrieben und konnte trotzdem ihr ganzes Leben lang keine stabile Partnerschaft aufbauen. Bis zu ihrem Tod hat sie Rachel immer wieder versprochen, das Geheimnis um ihren Vater zu lüften, tat das aber nicht bis zu ihrem Tod bei einem Verkehrsunfall. Jetzt will Rachel endlich Antworten, weshalb sie sich an einen Privatdetektiv wendet.

Die Geschichte nimmt sich viel Zeit, die Jugend von Rachel, ihre Suche nach ihrem Vater und die Arbeit an ihrer Karriere zu beschreiben. Der Autor schreibt kurzweilig und als Leser versteht man immer besser, wie Rachel tickt. Gleichzeitig fragte ich mich, wohin die Geschichte sich entwickeln wird. Der ruhige Erzählton machte mich argwöhnisch – wann kommt die angekündigte Verschwörung wohl ins Rollen? Doch bis dahin soll noch einige Zeit vergehen.

Bald kommt es dennoch zu einem ersten Bruch: Rachels fast perfektes Leben fällt wie ein Kartenhaus zusammen. Wie es dazu kommen konnte wird durch die ausführliche Vorgeschichte nachvollziehbar gemacht, der Moment hat mich trotzdem ein wenig überraschend. Wie kann es nun für sie weitergehen? Als sie Monate später einen alten Bekannten trifft, schöpft sie neue Hoffnung, doch den Weg zurück ins normale Leben findet sie nicht. Sie arrangiert sich in ihrem kleinen Schneckenhaus und schirmt sich von der Außenwelt ab.

Den Moment des Twists fand ich schließlich äußerst gelungen. Als Leser weiß man zuerst nicht, ob nun wirklich etwas Großes passiert oder es nur eine geschickt platzierte Verwirrung ist. Doch im Nu ist man schon mittendrin und plötzlich ist das Buch wie ausgetauscht: Actionreich, temporeich und spannend. Wie auch Rachel weiß der Leser kaum, wie ihm geschieht. Man fetzt durch die Seiten auf der Suche nach Antworten, und endlich ergibt auch der Prolog Sinn. Doch die Antworten, die man erhält, werfen weitere Fragen auf.

Wem kann man noch vertrauen? Nach dem ziemlich langen Vorlauf bekam ich endlich die Story, auf die ich gewartet habe. Dramatische Szenen und unerwartete Wendungen ließen mich bis zum Schluss neugierig weiterlesen. Wer bereit ist, ruhig zu starten und die Entwicklung der Protagonistin über einige Jahre zu begleiten, um sie besser kennenzulernen, der wird schließlich mit gelungenen Wendungen und einer actionreichen Verschwörungsgeschichte belohnt!

[Rezension Ingrid] Der Abgrund in dir von Dennis Lehane


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Titel: Der Abgrund in dir
Autor: Dennis Lehane
Übersetzer: Steffen Jacobs und Peter Torberg
Erscheinungsdatum: 29.08.2018
Verlag: Diogenes (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Leseexemplar

Hannas Rezension zum Buch: ->Klick!
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Das Buch „Der Abgrund in dir“ von Dennis Lehane beginnt mit einer verstörenden Szene. Die Protagonistin Rachel, Mitte 30 Jahre alt, erschießt ihren Ehemann an Bord eines Boots. Natürlich wurde bei mir als Leserin dadurch sofort die Frage aufgeworfen, wie es zu dieser Tat kam. Im Prolog erfuhr ich, dass sowohl Täterin wie auch Opfer in dem Moment erstaunt über diesen Schritt sind. Rachel erinnert sich danach an eine Begebenheit, bei der ihre Mutter, die eine erfolgreiche Autorin von Beziehungsratgebern war, sie vor den Lügen von Männern warnte. In der vor ihren Augen ablaufenden Szene erkennt sie das Entsetzen ihres Manns und die wortlose Übermittlung seiner Liebe zu ihr, die sie bis zum Schluss erwiderte. Ich konnte es kaum erwarten mehr zu den Hintergründen zu erfahren. Doch der Autor entwickelte seine Erzählung eher langsam und steigerte so die Spannung.

Der Roman ist in drei Teilen geschrieben. Im ersten Teil dreht sich alles um Rachel, beginnend mit ihrer Kindheit. Sie war keine drei Jahre alt als ihr Vater die kleine Familie verließ. Ihre Mutter Elizabeth kam bei einem Unfall ums Leben und hat ihrer Tochter den Namen des Vaters nie genannt. Mit wenigen Informationen findet sie über zwanzig Jahre später den Mann wieder, der ihr als Vater in Erinnerung ist und zu einem guten Freund wird. Inzwischen ist sie eine erfolgreiche Reporterin bei einem TV-Sender und heiratet einen Kollegen vom Fernsehen. Doch immer häufiger kommt es bei ihr in stressigen Situationen zu Panikattacken. Schließlich ist sie kaum noch in der Lage, ihr zu Hause zu verlassen.

Am Tag ihrer Scheidung trifft sie in einer Kneipe erneut auf den Unternehmenssohn Brian, den sie vor Jahren auf der Suche nach ihrem Vater als Privatdetektiv kennengelernt hat und der damals ihren Auftrag ablehnte. Der zweite Teil des Buchs ist nach ihm benannt und dementsprechend steht Brian in diesem Teil im Fokus. Allein die Länge des Teils im Vergleich zu den anderen beiden lässt auf die besondere Bedeutung der Person schließen. Der letzte Teil beschreibt erneut eine Suche von Rachel. Diesmal ist es eine nach der Wahrheit und dem Vertrauen.

Dennis Lehanes Charaktere in diesem Roman sind komplex. Seine Figur Rachel baut er bedachtsam auf und ließ mich als Leser auf ihre Kindheit an der Seite ihrer permanent unzufriedenen Mutter schauen. Ich konnte ihre Entwicklung raus aus deren Schatten hin zu einer erfolgreichen Journalistin verfolgen. Doch die erlernten Werte und ihr Sinn für Recht und Anstand sind übermächtig. Vielleicht ist daher der Drang, ihren Vater zu finden, auch die Suche nach einer Person, die ihr Halt geben soll im Leben. Ihre erste Ehe hat keinen Bestand weil sie bei ihrem Mann nicht genügend Unterstützung zum Aufbau und Erhalt ihres Selbstwerts findet.

Am Ende des ersten Teils erlebte ich Rachel als zerbrechliche Persönlichkeit, nervlich auf das Äußerste angespannt, am Ende ihrer Kräfte. Doch dann wurde Brian, bis dahin nur eine Randfigur, für sie immer wichtiger. Er kümmert sich liebevoll um sie, ist besorgt und spricht ihr gleichzeitig Mut zu. Insgesamt gesehen fällt es mir schwer von Sympathien zu den Protagonisten zu sprechen, zu zerrissen ist die Persönlichkeit Rachel, zu undurchschaubar die Figur Brian. Und doch haben beide ausreichend gute Eigenschaften, die sie zu interessanten Charakteren macht.

„Der Abgrund in dir“ wartet mit zahlreiche unerwarteten Wendungen und überraschenden Handlungsfolgen auf. Zwar beansprucht er ein wenig die Geduld des Lesers bis er sein Potential voll entfaltet. Die Spannung wächst exponentiell zum Ende hin an. Mir gefiel die Geschichte sehr gut, eine Verfilmung halte ich für denkbar. Gerne empfehle ich den Roman weiter.

Montag, 27. August 2018

[Rezension Hanna] Guten Morgen, Genosse Elefant - Christopher Wilson


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Guten Morgen, Genosse Elefant
Autor: Christopher Wilson
Übersetzer: Bernhard Robben
Hardcover: 272 Seiten
Erscheinungsdatum: 16. August 2018
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Link zur Buchseite des Verlags

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Der zwölfjährige Juri Zipit wohnt im Jahr 1954 mit seinem Vater, der als Tierarzt arbeitet, in einer Personalwohnung des Hauptstadtzoos in Moskau. Mit sechs Jahren hatte er einen schweren Unfall. Seither vergisst er häufiger Dinge und hat gelegentlich Anfälle. Eines Abends wird sein Vater vom Geheimdienst abgeholt, um einen Patienten zu behandeln. Juri begleitet ihn als Assistent. Die Überraschung ist groß, als der Patient kein Tier ist, sondern der Stählerne höchstpersönlich, der überzeugt ist, dass alle Humanmediziner Verschwörer sind. Er ist von Juris liebem Gesicht und scheinbar einfachen Charakter so angetan, dass er ihn auf der Stelle zu seinem neuen Vorkoster ernennt. So erlebt Juri hautnah, was im Zentrum der russischen Macht vor sich geht.

Juri ist ein ganz besonderer Charakter, der sich dem Leser zu Beginn des Buches selbst vorstellt. Er lebt mit seinem Vater im Zoo und hat sich damit abgefunden, dass er seit seinem Unfall sechs Jahre zuvor oft Wörter oder Erinnerungen vergisst und an Epilepsie leidet. Denn gleichzeitig ist er sehr wissbegierig und kennt sich mit vielen Dingen aus, von denen seine Klassenkameraden keine Ahnung haben. Außerdem hat er ein liebes, stets lächelndes Gesicht, das dazu führt, dass ihm Fremde ständig vertrauliche Dinge erzählen, die er gar nicht hören will. Seine Mutter war Ärztin und einfach verschwunden, als er fünf Jahre alt war. Auch sein Vater lebt in ständiger Angst, eines Tages abgeholt zu werden und hat Juri eingeschärft, im Ernstfall so wenig wie möglich zu sagen.

Als die Geheimpolizei Juri und seinen Vater eines abends tatsächlich mitnimmt, passiert das aus ganz anderen Gründen als erwartet. Sie werden zum kranken Stählernen geführt, der von Juris Vater begutachtet werden soll. Dessen Diagnose gefällt ihm nicht, doch Juri will er als Vorkoster behalten. So gerät Juri völlig unvorbereitet in ein Schlangennest, in dem alle einander hintergehen und ihre eigene Agenda verfolgen. Von seiner Arglosigkeit wollen verschiedene Personen profitieren und versuchen ihn für ihre persönlichen Zwecke einzuspannen.

Juri sieht und erlebt vieles, dass er nicht ganz versteht. Zu Beginn realisiert er nicht einmal, dass er tatsächlich für Stalin arbeitet. Von seinem neuen Umfeld als einfältig abgestempelt erlebt er als stummer Zuhörer manch streng geheime Szene mit. Seine erschreckenden Schilderungen machten mich als Leser betroffen und zeigen die Willkürlichkeit, mit der in totalitären Systemen Entscheidungen über Leben und Tod getroffen werden.

Das Leben als Vorkoster ist ein Tanz auf Messers Schneide, denn viele sind schon an Gift gestorben. Er schwebt in ständiger Gefahr und ist auf sich allein gestellt. Seine Erlebnisse als Vorkoster enthielten für mich jedoch zu viele wiederkehrende Beschreibungen von Saufgelagen und Schimpftiraden. Auf der anderen Seite gibt es viele skurrile Szenen, zum Beispiel bei der Vorführung amerikanischer Filme, die mich trotz der ernsten Gesamtsituation zum Schmunzeln brachten.

Bei „Guten Morgen, Genosse Elefant“ handelt es sich um eine fiktive Geschichte, welche vieles ganz bewusst überspitzt und es mit den historischen Fakten nicht immer so genau nimmt. Trotzdem vermittelt sie einen Eindruck davon, wie es im innersten politischen Kreis Russlands in der Zeit vor Stalins Tod zugegangen sein könnte, wo niemand dem anderen traut und niemand sich in Sicherheit wägen kann. Juris Geschichte ist tragisch, sein Optimismus und seine kindliche Gutgläubigkeit rührend. Ich empfehle diese ungewöhnliche, dramatische Geschichte mit vielen satirischen Elementen sehr gerne weiter!

Sonntag, 26. August 2018

[Rezension Ingrid] Der Duft des Waldes von Hélène Gestern


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Titel: Der Duft des Waldes
Autorin: Hélène Gestern
Übersetzerin: Brigitte Große
Erscheinungsdatum: 25.07.2018
Verlag: S. Fischer (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen
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„Der Duft des Waldes“ ist der erste Roman der Französin Hélène Gestern, der in Deutsch erscheint. Ein verblassendes Foto auf dem Cover lässt vermuten, dass die Geschichte in der Vergangenheit spielt. Doch es ist nur ein Teil davon, der mich als Leser bis zur Zeit des Ersten Weltkriegs zurückführte. Der Duft des Waldes ist nicht nur in angenehmen Situationen wahrzunehmen, er ist auch präsent während der Trauer auf einem Waldfriedhof und hört auch in einem Schützengraben im bewaldeten Gebiet nicht auf.

Elisabeth Bathori ist Historikerin und arbeitet für das Institut für Fotogeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts in Paris. Vor zwei Jahren ist ihr geliebter Partner verstorben, ohne dass sie von ihm persönlich Abschied nehmen konnte. Seitdem fehlen ihr Antrieb und Motivation. Zu ihrem Beruf gehört es, dass sie Fotoarchive begutachtet. Als ihr die 89-jährige Alix de Chalendar das Album ihres im ersten Weltkrieg verstorbenen Onkels Alban de Willecot vorlegt ist sie sofort von dessen Wert überzeugt. Der Soldat hat Postkarten und Briefe an der Front geschrieben und sie unter anderem an den bekannten Dichter Anatole Massis verschickt.

Als wenig später die Klientin stirbt hinterlässt sie ihr überraschenderweise ein Landhaus. Durch ihre neue Aufgabe und durch das geerbte Haus bedingt, beginnt Elisabeth langsam ins Leben zurückzufinden. Immer tiefer dringt sie über den Inhalt des Albums in die Geschichte des Soldaten ein, in der so manches Geheimnis verborgen liegt. Bei ihrer Suche nach Antworten findet sie immer mehr Widersprüche, die ihren Ehrgeiz anspornen, sie zu entwirren und die Wahrheit zu erfahren.

Hélène Gestern unterrichtet Literatur an einer französischen Universität. Vor allem ist sie von der Geschichte der Fotografie und deren Auswirkung auf das Verständnis der Historie sowie vom autobiographischen Schreiben begeistert. Beide Themen glänzen in ihrem Roman. Sie lässt ihre Protagonistin in der Ich-Form erzählen. Die Worte von Elisabeth richten sich immer wieder direkt an ihren verstorbenen Geliebten. Auf diese Weise konnte ich all ihren Schmerz und die Trauer über seinen Tod erfahren, aber auch ihre Neugier auf die Geschichte von Alban und seinen Freunden, die Freude über jeden kleinen Fortschritt, ihre Begeisterung im Umgang mit dem geerbten Haus und ihrer neuen Nachbarin sowie das zögerliche Aufkeimen einer neuen Liebe. Die Autorin schreibt so überzeugend, dass ich manchmal dachte, dass Elisabeth eine reale Figur ist.

Zwar sind auch Alban und seine Freunde nur fiktiv, aber anhand der Postkarten, Briefe und Tagebücher, die sie geschrieben haben, lässt Hélène Gestern die Zeit wieder lebendig werden. Schon auf Seite 2 konnte ich in einem Brief von Alban de Willecot an Anatole Massis über die Gräuel des Dienstes an der Front lesen. Doch dies ist erst ein kleiner Einblick. Selbst so weit von zu Hause entfernt sind doch die Erinnerungen an die Heimat stets präsent. Bald ist die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Kriegs getrübt und Alban hält sich zunehmend nur noch an die vorgeschriebene Disziplin durch den Glauben daran, dass seine Fotos und Texte den Daheimgebliebenen das wahre Gesicht der Zerstörung und der Leiden zeigen. Solche Fotografien sind für uns bis heute wertvolle Dokumente.

Bei ihrer Recherche begegnet Elisabeth Samuel, einem Nachkommen einer mit Alban befreundeten Familie, zu dem sie bald mehr empfindet wie nur Freundschaft. Ausgerechnet das alte Tagebuch der 18-jährigen Diane, einer Freundin von Alban, hilft ihr bei ihren Beziehungsproblemen. Weitere Nachforschungen in der Familie von Diane brachten mich als Leser im Verlauf des Romans in die Zeit des Zweiten Weltkriegs zu Judenverfolgung und Résistance. Um die Figuren den verschiedenen Zeiten und Familienzweigen besser zuordnen zu können, wäre ein Personenverzeichnis nützlich gewesen.

Ist die Erzählung in einer ruhigen Sprache geschrieben, so dringen die fiktiven Briefe und Tagebucheinträge umso eindringlicher in das Bewusstsein des Lesers. Hélène Gestern hat mit „Der Duft des Waldes“ ein Buch geschrieben, das trotz der umfassenden Seiten nicht langweilt, weil es immer wieder neue Geheimnisse aufzudecken gibt. Mit unerwarteten Wendungen bleibt die Geschichte bis zum Ende hin faszinierend. Der Roman im Gesamtbild hat mich überrascht und wird mir in Erinnerung bleiben. Gerne empfehle ich ihn weiter.

[Rezension Hanna] Spinster Girls - Was ist schon normal? - Holly Bourne


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Spinster Girls - Was ist schon normal?
Autorin: Holly Bourne
Übersetzerin: Nina Frey
Taschenbuch: 416 Seiten
Erscheinungsdatum: 20. Juli 2018
Verlag: dtv
Link zur Buchseite des Verlags

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Endlich geht Evie aufs College, wo sie einen ganz normalen Neuanfang wagen kann. Sie möchte tolle Freundinnen haben und sich verlieben, ohne dass jemand von ihrer Zwangserkrankung weiß, in deren schlimmster Phase sie das Haus für acht Wochen nicht verlassen hat. Jetzt ist sie zwar noch in Therapie, hat die Krankheit aber ganz gut im Griff. Ihr erstes Date stellt sich leider als Vollkatastrophe heraus, und der zweite Kandidat scheint noch verrückter zu sein als sie. Evie und ihre neuen Freundinnen Lottie und Amber ernennen sich zu Spinster Girls: Sie sind fest entschlossen, sich für Jungs nicht zu ändern und möchten bei ihren Clubtreffen über feministische Themen sprechen. Jungs bleiben natürlich ebenfalls Thema – und die stellen Evies Leben bald ganz schön auf den Kopf.

In diesem ersten Band der Spinster Girls Trilogie begleitet der Leser Evie bei ihrer ersten Zeit auf dem College. Für sie ist das eine große Sache, denn dort weiß kaum jemand von ihrer Zwangserkrankung. Eine Ausnahme ist ihre ehemals beste Freundin Jane, doch klebt nur noch an ihrem Freund, hat ihren Stil für ihn komplett verändert und für nichts anderes mehr Zeit. Evie ist fest entschlossen, nun ein Leben zu führen, dass so „normal“ ist wie das aller anderen.

Ich fühlte mich Evie schnell nahe, denn sie lässt den Leser intensiv an ihren Gedanken teilhaben. Immer wieder sind es Ausschnitte aus ihrem Genesungstagebuch abgedruckt, in welchem sie ihre Gedanken festhält und Hausaufgaben von ihrer Therapeutin notiert sind, an denen sie arbeiten soll. Außerdem sind ihre unguten Gedanken, die durch die Erkrankung entstehen, hervorgehoben. So wird begreiflich gemacht, zu welchen Handlungen sie durch diese getrieben wird. Dadurch wird greifbar gemacht, was es heißt, mit einer Zwangserkrankung zu leben. Das klingt bedrückend, ist es aber nicht. Evie erzählt unterhaltsam aus ihrem Leben, der Ton ist locker und frech. Es gibt immer wieder ernstere Momente, durch welche die Atmosphäre jedoch nicht kippt. Denn Evie ist eine Kämpferin, die vor ihrer Krankheit nicht mehr so leicht kapitulieren will.

Die beiden weiteren großen Themen des Buchs sind Jungs und Feminismus. Durch die Gründung des Clubs der Spinster Girls werden die Themen gelungen kombiniert. In Lottie und Amber findet Evie zwei tolle neue Freundinnen, mit denen sie über vieles reden kann. Nur über ihre Erkrankung will sie mit ihnen nicht sprechen. Dafür tauschen sie sich intensiv über Jungs aus und erinnern sich gleichzeitig gegenseitig an die Clubregeln, die besagen, dass man sich bei aller Verliebtheit selbst treu bleiben muss. Evies erste Dating-Erfahrungen sind schräg und zeigen, was in ihrem Alter so passieren kann. Bei den Clubtreffen kommen auch feministische Themen nicht zu kurz und geben dem Leser kleine Einblicke in unterschiedliche Aspekte des Feminismus.

„Spinster Girls: Was ist schon normal?“ ist eine kurzweilige Lektüre, die gelungen Einblicke in das Leben von Evie gibt, die an einer Zwangserkrankung leidet, diese aber nicht über ihr Leben bestimmen lassen will. Am College findet sie neue Freundinnen, mit denen sie über ihre ersten Dating-Erfahrungen und feministische Themen reden kann. Der Tonfall ist meist locker, doch nicht alles läuft nach Plan, sodass es auch bedrückende Momente gibt. Ich empfehle das Buch gern an jugendliche Leser weiter!

Dienstag, 21. August 2018

[Rezension Hanna] Königskinder - Alex Capus


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Königskinder
Autor: Alex Capus
Hardcover: 176 Seiten
Erscheinungsdatum: 20. August 2018
Verlag: Carl Hanser Verlag
Link zur Buchseite des Verlags

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Max und Tina, seit sechsundzwanzig Jahren ein Paar, bleiben eines Nachts mit ihrem Auto auf einem verschneiten Alpenpass im Greyerzerland stecken, den sie trotz Sperrung befahren haben. Um das Warten auf den Morgen zu verkürzen, beginnt Max, eine Geschichte zu erzählen. Diese nimmt ihren Anfang in einer Melkhütte, die man aus dem Auto heraus beinahe sehen könnte. Max berichtet, dass dort vor über zwei Jahrhunderten der Hirte Jakob lebte. Seine Liebe zu Marie, einer reichen Bauerstochter, wird von deren Vater missbilligt. Trotzdem kreisen die Gedanken der beiden unbeirrbar umeinander. Sein Weg wird Jakob schließlich bis an den Hof von Ludwig XVI führen.

Zu Beginn des Buches lernt der Leser Max und Tina kennen, die sich mit ihrem roten Toyota Corolla über eine verschneite Passstraße kämpfen. Die beiden zanken sich ständig über Kleinigkeiten, zum Beispiel über die Frage, wann man den Scheibenwischer einstellen sollte. Trotzdem merkt man schnell eine Verbundenheit zwischen ihnen. Ihr Ton bleibt immer wertschätzend, und über die großen Dinge im Leben sind sie sich einig, das wissen sie beide.

Als schließlich klar wird, dass sie die Nacht über eingeschneit im Auto verbringen müssen, beginnt Max mit seiner Geschichte. Jakob und Marie stammen beide aus einem bäuerlichen Umfeld, aus einer gesellschaftlichen Perspektive liegen trotzdem Welten zwischen ihnen. Jakob wohnt als Eremit in einer keinen Melkhütte auf der Alp. Im Sommer kümmert er sich um einige Rinder, ansonsten ist er allein und spricht über Jahre hinweg nur wenig. Marie hingegen ist die Tochter eines wohlhabende Bauern im Tal, der erwartet, das sie eine gute Partie macht. Doch auch ohne viele Worte merkten die beiden bei ihrem Aufeinandertreffen schnell, dass sie ihre Zeit miteinander verbringen wollen.

Die Sprache des Autors ist zart und poetisch. Trotz des Liebe-auf-den-ersten-Blick Szenarios wird es nicht kitschig. Max‘ Erzählung wird von Tina immer wieder durch unterhaltsame, oft sarkastische Kommentare unterbrochen, in denen sie zum Beispiel hinterfragt, ob Max sich gerade an Klischees bedient. Die Geschichte richtet ihren Blick auch auf kleine Details, wodurch die Szenen noch lebendiger wurden.

Jakob und Marie verbindet etwas, dass ohne große Worte auskommt. Doch es werden die gesellschaftlichen Restriktionen jener Zeit deutlich, die ein Zusammensein der beiden verhindern wollen, auch wenn die beiden die Meinung anderer wenig schert und sie still dagegen rebellieren. Jakob findet sich schließlich in Frankreich wieder und erlebt dort als stiller, bescheidener Beobachter bedeutende Momente der Weltgeschichte hautnah mit. Er und Marie machen das beste aus ihrer Situation, stets in Gedanken an den anderen. Kann sich für sie noch alles zum Guten wenden?

Obwohl ich das Buch bei hohen Temperaturen las, fühlte ich mich beim Lesen Max und Tina in ihrem eingeschneiten Auto nah und ließ mich von der Geschichte gefangen nehmen. Mir haben die beiden eng miteinander verwobenen Erzählstränge sehr gut gefallen. Ich empfehle diesen Ausflug in die verschneiten Berge und in die Vergangenheit, diese Geschichte voll stiller Liebe uneingeschränkt weiter!

[Rezension Ingrid] Spätsommerliebe von Petra Durst-Benning


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Titel: Spätsommerliebe (Band 4 der Maierhofen-Reihe)
Autorin: Petra Durst-Benning
Erscheinungsdatum: 16.07.2018
Verlag: blanvalet (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierete Buchausgabe: Klappenbroschur

weitere rezensierte Ausgaben der Reihe:
1. Kräuter der Provinz -> Rezension
2. Das Weihnachtsdorf -> Rezension
3. Die Blütensammlerin -> Rezension
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Das Buch „Spätsommerliebe“ von Petra Durst-Benning ist der vierte und vorläufig letzte Band der „Maierhofen-Serie“. Als Leser der Reihe traf ich wieder auf die inzwischen lieb gewonnenen bekannten Einwohner des Genießerdorfes. Doch die Kenntnis der ersten drei Bände ist für das Verständnis nicht notwendig. Der Prolog spielt unmittelbar im Anschluss an den dritten Teil, aber die Haupthandlung setzt etwa ein Jahr nach diesen Geschehnissen ein. In Bezug auf die Liebe kann der Spätsommer im übertragenen Sinne als eine Zeit angesehen werden, in der sich offenbart, ob eine Beziehung Bestand hat. Die Liebe ist gereift und nur wer die Partnerschaft gepflegt hat, kann die Frucht ernten und sich auf weiteren Ertrag freuen.

In einem alten Sprichwort heißt es „Wo gehobelt wird, da fallen auch Späne“, so ist es leider und realistisch auch in Maierhofen. Das Engagement jedes Einzelnen ist verantwortlich für den Erfolg des Dorfs. Um jedoch weiterhin daran anzuknüpfen, darf die Arbeit nicht ruhen. Einige Bewohner blühen in ihrer Aufgabe auf, andere bürden sich allerdings zu viel zu, darunter leidet auch die frisch erwachte Liebe.

Doch Petra Durst-Benning zeigt in „Spätsommerliebe“ nicht nur mögliche Auswirkungen erfolgreichen Handelns auf, sondern bringt mit einem besonderen Gast auch ein neues Gesicht in den Ort. Michelle ist Autorin und gestresst von ihrem Job in einer Eisdiele und ihrer Beziehung. Sie nimmt sich eine Auszeit um ihren Traum, einen Roman zu schreiben, zu verwirklichen. Auf Empfehlung einer Freundin hin sucht sie daher Unterkunft in Maierhofen.

Die Autorin verschweigt weder die Schattenseiten des Erfolgs noch die Krisen, die sich in einer Beziehung einstellen können. Ihre Charaktere haben Ecken und Kanten. Sie handeln mal überlegt, mal spontan ohne an die Folgen zu denken. Sie sind verliebt, engagiert, herzlich, aber auch mal wütend und traurig. Gerade weil Maierhofen ein kleines Dorf ist, erhält die Geschichte Schwung durch neue Figuren und durch einige Wendungen ergeben sich für die Bewohner vor Ort unerwartete Ereignisse. Im Stil eines allwisssenden Erzählers blickt Petra Durst-Benning in die Köpfe ihrer Charaktere und lässt den Leser am Denkprozess teilnehmen. Auf diese Weise hatte ich Verständnis für beide Seiten im Konfliktfall, genauso wie ich am Glück teilnehmen durfte oder von persönlichen Krisen bewegt war. Anhand der Mehrschichtigkeit der Figuren zeigt die Autorin auf, dass Meinungen verschieden sein können.

Wie in jedem Roman der Maierhofen-Serie sind auch in diesem wieder Rezepte enthalten. Neben Anleitungen zu heimischen sommerlichen Gerichten finden sich vor allem solche, an der griechischen Küche orientierte, was zum Inhalt des Buchs hervorragend passt ohne dass ich darüber zu viel verraten möchte. Auch der vierte und wohl vorläufig letzte Band der Reihe hat mich sehr gut unterhalten und daher empfehle ich ihn gerne weiter.

Montag, 20. August 2018

[Rezension Ingrid] Kampfsterne von Alexa Hennig von Lange


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Titel: Kampfsterne
Autorin: Alexa Hennig von Lange
Erscheinungsdatum: 20.08.2018
rezensierte Buchausgabe: Hardcover (Leseexemplar)
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„Kampfsterne“ sind im gleichnamigen Buch von Alexa Hennig von Lange die Heranwachsenden, die das Leben ihrer Eltern und deren Erziehungsmethoden kritisch sehen und sich dementsprechend äußern und agieren. Ihre Ecken und Kanten sind durch ihre Lebenserfahrungen noch nicht abgeschliffen. Das Cover bringt sehr gut zum Ausdruck wie man aus verändertem Blickwinkel  Strukturen unterschiedlich wahrnehmen kann und sich daraus eine eigene Ansicht entwickelt. Die orangefarbenen Elemente bringen Aufmerksamkeit gerade so wie die Kontras des Nachwuchses bei ihren Eltern und in ihrer Umwelt.

Der Roman spielt im Sommer des Jahres 1985 im Westen eines damals noch geteilten Deutschlands. Rita und Georg mit ihren Kindern Johannes und Klara sowie Ulla und  Rainer und ihre Töchter Constanze und Alexa leben am Rand einer Stadt in kleinbürgerlicher Umgebung mit gepflegten Gärten. Die Eltern sind gebildet, doch beide Paare haben zur Zeit der Hausfrauen-Ehe geheiratet als laut Bürgerlichem Gesetzbuch die Frau in erster Linie den Haushalt geführt und der Mann zum finanziellen Familienunterhalt verpflichtet war.  

Rita geht in ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter auf, obwohl sich ihre Partnerschaft längst auf einer anderen Ebene abspielt. Sie ist eine „Löwenmutter“, die nur das Beste für ihre Kinder möchte, wie fast alle in der Siedlung. Es wird ein buntes Förderprogramm von Musik und Sport geboten, dem Nachwuchs soll es mindestens gleich gut wenn nicht sogar mal besser gehen. In den Schulen wird Aufklärung angeboten, doch trotz allem ist gleichgeschlechtliche Liebe kein Thema für die Öffentlichkeit. Und Rita hat da so ein Gefühl, das für jemand anderem in diesem Roman gefährlich werden könnte.

Die Freundschaft von Rita und Ulla steht schon lange auf dem Prüfstand, denn das so wichtige Geben und Nehmen gerät gelegentlich aus dem Gleichgewicht, je nachdem aus welcher Sicht gesehen. Ulla und Reiner spielen in ihrer Ehe ein Spiel bei dem die Übergänge zur Realität nicht für jeden erkennbar sein. Ihr Verhalten steht vor allem bei ihrer etwa sechszehnjährigen Tochter Constanze in der Kritik, die sich mit aller Macht dagegen sträubt später ihr Leben so wie ihre Eltern zu führen.

Alexa Hennig von Lange lässt ihre Protagonisten in der Ich-Form erzählen. Es ist die bestgewählte Art die unterschiedlichen Gefühle ihrer Figuren zum Ausdruck zu bringen. Hass und Liebe, Eifersucht und Glück vermischen sich mit Traurigkeit und Zorn und äußern sich in wohlüberlegten oder spontanen Handlungen. Es erfolgt ein schneller Wechsel zwischen den Erzählern, der auf engem Raum den ganzen Mikrokosmos der Familien öffnet. Die Autorin war selbst Teenager in den 1980er und ihr eigener Nachwuchs ist jetzt in diesem Alter. Man liest zwischen den Zeilen ihre eigenen Erfahrungen. Dadurch wirkt die Geschichte realistisch und nachvollziehbar. Alexa Hennig von Lange schreibt kritisch ohne zu werten, über vielem liegt ein Hauch von Sarkasmus.

Die kurzen Szenen, die die Autorin beschreibt, sind beispielhaft und in einer wortgewandten Sprache. Ganz tief gräbt sie unter der Oberfläche der nach außen hin gezeigten Bürgerlichkeit und zeigt dadurch all die Widersprüche und die daraus resultierenden Verletzungen. Glaubt man, dass die Eltern im Fokus des Romans stehen, so sind es doch eigentlich die vielgeliebten Kinder. Diejenigen, die ab einem gewissen Alter sich mit ihrer späteren Rolle auseinandersetzen, Vergleiche ziehen, ihre Meinung kundtun und ihre Mütter und Väter auf diese Weise dazu bringen über sich und ihr eigenes Leben nachzudenken. Haben sie es wirklich besser gemacht als die Generation vor ihnen? Alexa Hennig von Lange lässt die 1980er lebendig werden. Manch einer von uns Lesern wird sich gerade in den damaligen Heranwachsenden Johannes und Constanze wiedererkennen. Diesen Roman empfehle ich gerne uneingeschränkt weiter.

Donnerstag, 16. August 2018

[Rezension Hanna] Vox - Christina Dalcher

 

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Vox
Autorin: Christina Dalcher
Übersetzer: Marion Balkenhol & Susanne Aeckerle
Hardcover: 400 Seiten
Erscheinungsdatum: 15. August 2018
Verlag: S. Fischer
Link zur Buchseite des Verlags

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In Amerika ist die „Bewegung der Reinen“ an die Macht gekommen. In kurzer Zeit hat die erzkonservative Bewegung die Frauen aus sämtlichen Machtpositionen gedrängt und sie schließlich vollständig unterdrückt: Die Pässe wurden ihnen weggenommen und sie werden gezwungen, Wortzähler zu tragen, mit denen sie nur 100 Wörter pro Tag sprechen können. Jean war früher kognitive Linguistin. Sie stand kurz vor einem Durchbruch in ihrer Forschung rund um die Heilung der Wernicke-Aphasie, einer Sprachstörung. Jetzt bleibt ihr nur noch die Versorgung ihres Manns und ihrer vier Kinder und jede Menge Wut, für die sie kein Ventil hat. Doch dann verunglückt der Bruder des Präsidenten - und ausgerechnet Jean soll helfen…

Die Ausgangslage dieser dystopischen Geschichte ist erschreckend: Eine erzkonservative Bewegung hat das Land fest im Griff und Frauen nicht nur aus der Öffentlichkeit zurückgedrängt, sondern sie nahezu mundtot gemacht. Wie konnte das passieren, und wie reagieren die Betroffenen und Nicht-Betroffenen darauf? Erzählt wird die Geschichte von Jean, die wie alle Frauen zum Opfer geworden ist und weiß, dass sie zu wenig getan hat, um all das aufzuhalten. Während ihre frühere Mitbewohnerin Jackie jahrelang Proteste organisierte, hielt sie sich zurück, ging nicht einmal wählen. Nun ist es zu spät, um etwas zu sagen, denn die hundert Worte am Tag müssen sorgfältig ausgewählt werden. Besonders schmerzt es sie zu sehen, wie Sonia, ihr jüngstes Kind und einziges Mädchen, aufwächst. Mit ihren Kenntnissen hat Jean sie gezielt konditioniert, sodass Sonia weit weniger als hundert Wörter täglich sagt, um möglichst weit weg zu bleiben von dieser gefährlichen Grenze, dessen Überschreiten starke Stromstöße zur Folge hat.

Immer wieder werden kurze Rückblicke eingeschoben, die dem Leser verständlich machen, wie es so schnell dazu kam, dass die „Bewegung der Reinen“ die Macht übernommen hat. Das Gedankengut der Bewegung weist Ähnlichkeiten zu dem realer erzkonservativer Bewegungen auf, die eingesetzten Methoden erinnern an den Nationalsozialismus. Frauen gehören an den Herd und jeder soll möglichst schnell eine Familie gründen. Wer nicht spurt, der wird mit einem Wortkontingent von Null ins Lager gesteckt. Mit Entsetzten liest man sich durch die Seiten. Dabei wird stark auf die emotionale Tube gedrückt, während die Handlung kaum voranschreitet.

Durch den Unfall des Präsidentenbruders kommt schließlich mehr Schwung in die Geschichte, denn plötzlich braucht man Jeans Wissen. Endlich hat sie eine Chance, aus ihrem bisherigen Handlungsmuster auszubrechen. Man lernt einige neue Charaktere kennen und erfährt Geheimnisse, die Jean sorgfältig hütet. Ihr Auftrag bringt sie in ein Dilemma und ich war neugierig, wie sie sich entscheiden wird. Gleichzeitig kommt es in ihrem Umfeld zu erschütternden Zwischenfällen, die durch die Bewegung der Reinen verursacht werden. Bei all dem hat mich vor allem eine Sache wirklich gestört: Zwar wird immer gesagt, dass die Bewegung der Reinen das ganze Land kontrolliert, doch das Beziehungsgeflecht wirkt so krampfhaft konstruiert, dass Amerika ein Dorf zu sein scheint. Ihr Mann arbeitet für den Präsidenten, Jean forscht genau an der Krankheit, die den Präsidentenbruder ereilt, ihre ehemalige Mitbewohnerin war die Wortführerin der Rebellion, die Nachbarin landet nach einem Fehltritt sofort im Fernsehen und so weiter. Zum Ende hin wird schließlich auf sich überschlagende, actionreiche Ereignisse gesetzt, bei denen ich irgendwann den Überblick verloren habe, was nun zum Plan gehört und was nicht.

„Vox“ sendet mit der Geschichte von Jean die wichtige Botschaft, dass man sich fortlaufend stark machen sollte gegen jede Art von Unterdrückung. Die Umsetzung war für mich jedoch nicht mehr als Mittelmaß. Zu sehr wird auf schockierende und emotionale Szenen gesetzt, zu wenig auf einen authentischen Handlungsverlauf, der das große Ganze im Blick hält.
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