Samstag, 30. März 2024

Rezension: Annas Lied von Benjamin Koppel


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Annas Lied
Autor: Benjamin Koppel
Übersetzer aus dem Dänischen: Ulrich Sonnenberg
Erscheinungsdatum: 13.03.2024
Verlag: S. Fischer (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783103976236

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Der Debütroman „Annas Lied“ von Benjamin Koppel, einem dänischen Jazz-Saxophonisten, Komponisten und Musikproduzent, ist eine Hommage an seine Großtante, deren Leben er darin beschreibt. Beruhend auf Fakten und ergänzt mit Fiktion erzählt er von seiner Familie, die Ende der 1920er Jahre in Kopenhagen lebte. Damals war Hannah, die Schwester seines Großvaters, acht Jahre alt. Sie hatte vier ältere Bruder. Die Wurzeln ihrer Eltern lagen in Polen, doch inzwischen lebten weitere Verwandte in der Nähe. In der dänischen Hauptstadt hatte Hannahs Vater sich als Schneider niedergelassen.

Der Autor lässt den Alltag in der quirligen Familie lebendig werden. Er beschreibt die jüdischen Riten, die Hannahs Eltern befolgen und darauf achten, dass dabei ihre Kinder eingebunden sind. Klassische Musik spielt eine große Rolle. Drei der vier Brüder von Hannah wurden Musiker. Der Wunsch der Mutter, dass ihre Söhne Frauen heiraten, die ihrer Religion angehören, ging jedoch nicht in Erfüllung, obwohl erbetene Ehevermittlungen erfolgreich versprechend waren. Aufgrund ihres musischen Talents ist Hannahs großer Traum, Pianistin zu werden, doch ihre Eltern haben eine ganz andere Zukunft für sie geplant.

Hannahs Mutter Bruche erweist sich als Matriarchin, die ihren Willen unter Umständen mit Wutanfällen durchzusetzen vermag. Das Verhalten ihres Ehemanns wirkt ausgleichend auf sie, aber auch er kann es ihr nicht immer recht machen. Bruche ist stolz auf ihre Kinder, jedoch spürt Hannah auch ihre tiefe Enttäuschung über die Abkehr der Söhne von den religiösen Gepflogenheiten. Sie will sie nicht ebenfalls enttäuschen und ordnet sich unter. Im Weltkrieg flieht Hannah mit ihren Eltern nach Schweden, doch nachdem Frieden eingekehrt ist, führt das Schicksal sie nach Paris, wo der von den Eltern Ausgewählte auf sie wartet.

Benjamin Koppel hatte das große Glück, seine Tante noch im hohen Alter kennenzulernen und vieles aus ihrem Leben aus erster Hand zu erfahren. Hannahs Leben hatte einige tragische Tiefen, aber sie hat nie den Mut aufgegeben, obgleich ihr vieles versagt blieb. Ihr sind kritische Ansichten zu ihrem Lebensstil angetragen worden, doch sie ist immer treu geblieben, was manchem unverständlich sein mag. Vor allem auf den ersten beiden Dritteln des Buchs passiert ständig etwas Unvorhersehbares. In den späteren Dekaden von Hannahs Leben verweilt der Autor nur noch bei einzelnen Szenarien und schreitet dadurch in der Handlungszeit schnell voran. Erst im hohen Alter erfüllt die Protagonistin sich einen langgehegten Wunsch.

Im Roman „Annis Lied“ beschreibt der Autor Benjamin Koppel den Lebensweg seiner Großtante Hannah Koppelmann, die einer jüdischen Familie mit religiösen Traditionen angehörte. Ihr Leben wird gestreift von der Geschichte der Judenverfolgung, ebenso ist es verknüpft mit der Liebe zur Musik. Mit dem Bewusstsein, dass man hier über ein tatsächlich gelebtes Leben liest, wird das Geschriebene zu einem berührenden Lesegenuss, den ich gerne weiterempfehle.

Mittwoch, 27. März 2024

Rezension: Und Großvater atmete mit den Wellen von Trude Teige


Und Großvater atmete mit den Wellen
Autorin: Trude Teige
Übersetzerin: Günther Frauenlob
Hardcover: 416 Seiten
Erschienen am 27. März 2024

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Der Norweger Konrad Bjerke arbeitet als Leichtmatrose einem Handelsschiff, das Dieselöl aus dem Iran nach Australien bringen soll. Es ist das Jahr 1943, und Japan in Südostasien auf dem Vormarsch. Als ein japanisches U-Boot das Schiff auf hoher See mit Torpedos angreift, wird sein Bruder Sverre, der als Funker ebenfalls an Bord war, gefangen genommen. Konrad selbst versucht, mit einem Rettungsboot an Land zu gelangen. Als er an der Küste von Java strandet, ist er mehr tot als lebendig. Im Krankenhaus bietet die Krankenschwester Sigrid Greve an, sich um ihn zu kümmern, da sie ebenfalls aus Norwegen kommt. Sie lebt seit ihrer Kindheit auf Java, da ihre Eltern dort ein Hotel besitzen. Die beiden kommen sich schnell nahe. Doch die japanischen Besatzer verschärfen täglich die Regeln, und beide ahnen, dass sie getrennt voneinander in Gefangenschaft geraten werden. Was wird sie dort erwarten?

Der Roman beginnt mit einem Brief von Juni Bjerke, die ankündigt, dass man nachfolgend in die Erinnerungen ihres Großvaters eintauchen wird. Da ich das vorherige Buch der Autorin nicht gelesen habe, konnte ich damit wenig anfangen, denn Juni wird während der ganzen Geschichte nicht in Erscheinung treten und nur auf der allerletzten Seite des Romans ein kurzes Fazit ziehen. Ansonsten brauchte ich aber keine Vorkenntnisse, um in die Geschichte hineinzufinden. Sie beginnt hochspannend mit einem Torpedoangriff und ich bangte mit, ob es Konrad an Land schaffen wird.

Das Tempo ist zu Beginn hoch. Die Geschichte wird aus den Perspektiven von Konrad, Sverre und Sigrid erzählt, die auf dem von den Japanern besetzten Java ganz unterschiedliche Erfahrungen machen. Die beiden Brüder klammern sich an die Hoffnung, dass der jeweils andere überlebt hat, und versuchen, Erkundigungen einzuholen. Unterdessen kommen sich Konrad und Sigrid näher. Doch die Japaner haben es sich zur Aufgabe gemacht, alle auf der Insel, die keine Asiaten sind, in Lager zu verfrachten. Nach etwas mehr als 100 Seiten geraten alle drei getrennt voneinander in Kriegsgefangenenschaft. 

Der Rest des Romans beschreibt auf eindringliche Weise die Erlebnisse in den Lagern. Es gibt wenig Nahrung und schlechte hygienische Verhältnisse, wodurch Krankheiten grassieren. Die Charaktere sind der Willkür ihrer Bewacher ausgesetzt. Bald wird das Leben in den Lagern zum Überlebenskampf, der immer wieder neue Opfer fordert. Einzelne hoffnungsvolle Momente weichen schon bald wieder der Sorge, dass die Besatzer ihre Gefangenen irgendwann verhungern lassen. Der beschaulich klingende Titel des Romans bezieht sich auf die Methode von Konrad, in dieser schrecklichen Zeit in den Schlaf zu finden. 

Erst als die Nachrichten vom Kriegsende die Lager erreichen, flammt die Hoffnung wieder auf. Das Erzähltempo ist plötzlich wieder hoch, die Ereignisse überschlagen sich, halten aber neue schockierende Momente bereit. Ich habe das Buch traurig und mit einem wehmütigen Gefühl beendet. Eine intensive und beklemmende Lektüre darüber, wie es den Ausländern auf Java unter japanischer Besatzung ergangen ist. 

Dienstag, 26. März 2024

Rezension: Geordnete Verhältnisse von Lana Lux

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Geordnete Verhältnisse
Autorin: Lana Lux
Erscheinungsdatum: 19.02.2024
Verlag: Hanser Berlin (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783446279551
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In ihrem Roman „Geordnete Verhältnisse“ betrachtet Lana Lux die toxische Beziehung zwischen Philipp und seiner besten Freundin Faina. Die beiden lernen sich in der Schule kennen, nachdem Faina im Alter von zehn Jahren mit ihren Eltern aus der Ukraine ins Ruhrgebiet gezogen ist. Dagegen ist Philipp als Kind eine Weile bei Verwandten aufgewachsen, bevor er wieder bei seiner Mutter wohnen darf, die gegen ihren Alkoholismus ankämpft.

Philipp wird schnell wütend, manchmal schlägt er dann zu oder schreit. In der Freundschaft zu Faina findet er eine Aufgabe, denn er hilft ihr beim Deutschlernen und erklärt ihr deutsche Angewohnheiten. Durch Faina lernt er eine andere Mentalität kennen. Fünfzehn Jahre nach der ersten Begegnung wohnen Philipp und Faina zusammen, sind aber kein Paar. Philipp entwickelt keine Anziehung zu anderen Personen, fühlt sich jedoch auf besondere Weise mit seiner langjährigen Freundin verbunden. Doch nach einem Streit kommt es zum Bruch der Freundschaft und Faina zieht nach Berlin. Nach mehreren Jahren sucht sie verzweifelt die Nähe von Philipp, der sie wieder bei sich aufnimmt. Aber seine Hilfe fordert einen hohen Preis von Faina. 

Lana Lux erzählt den Beginn der Freundschaft zunächst aus der Sicht von Philipp. Erst als Faina nach ihrer Rückkehr aus Berlin Aufnahme bei ihrem besten Freund sucht, wechselt die Erzählperspektive zu ihr. Nach einem erneuten zeitlichen Sprung und einem erklärenden Kapitel, das beide in den Fokus nimmt, lässt die Autorin beide im Wechsel, den sich zuspitzenden Konflikt bis zum tragischen Ende erzählen.

Eine große Stärke der Autorin besteht in der Figurengestalten. Philipp ist ein verstörtes Kind, dessen größter Wunsch ein bester Freund ist. Er beharrt meist auf seiner Meinung, erweist sich als besitzergreifend und hält gern an Ritualen fest, die er sich ausgedacht hat. Fainas Verhalten ist zunächst von ihrer Herkunft beeinflusst. Da die Autorin selbst ukrainisch-jüdische Wurzeln hat, gelingt es ihr, diese authentisch darzustellen. Später versucht Faina sich aus den an sie gestellten Erwartungen zu befreien und zu einer eigenen Identität zu finden. Ohne die Interventionen ihrer Eltern und Philipps fühlt sie sich frei und lotet ihre Grenzen aus. Die Protagonisten entwickeln sich auf ihre Weise jeweils unerwartet weiter, was zu einem hohen Reiz des Weiterlesens führt.

In einem großen Bogen vom Kindes- zum Erwachsenenalter beschreibt Lana Lux tiefgründig und ergreifend die großen Gefühle ihrer Hauptfiguren, die zum Verständnis dessen beitragen, was zum Abschluss der Geschichte geschieht. Als Leserin spürte ich Wut und Verzweiflung ebenso wie Hoffnung und Zuneigung. Von Anfang an war die Beziehung von Philipp und Faina von dunklen Wolken umweht, die sich schließlich zu einem Gewittersturm auswuchsen.

Im Roman „Geordnete Verhältnisse“ konfrontiert Lana Lux den Lesenden mit starken Empfindungen, die für die beiden Protagonisten genauso erleichternd wie auch schmerzlich sein können. Es ist ein realistisch vorstellbares Szenario, das die Autorin beschreibt und für mich zu einem erschütternden, tief bewegenden Leseereignis führte. Sehr gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.  


Sonntag, 24. März 2024

Rezension: Die Burg von Ursula Poznanski


Die Burg
Autorin: Ursula Poznanski
Hardcover: 400 Seiten
Erschienen am 1. Februar 2024

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Maxim hat eine Einladung zu einer exklusiven Veranstaltung erhalten: Er darf als einer der ersten den neuen Escape Room auf der Burg Greiffenau ausprobieren. Dort hat der Milliardär Nevio in den unterirdischen Räumen die neueste Technik verbaut und eine KI programmiert, die den Besuchern eine Escape Room Erfahrung ganz nach ihren Wünschen bietet und jedes Mal neue Rätsel entwirft. Maxim wurde für seine Teilnahme an diesem Testlauf viel Geld angeboten, das er dringend benötigt, da er sich mit seinen eigenen klassichen Escape Rooms verschuldet hat. Neben ihm sind noch eine Influencerin, ein C-Promi, ein Professor und die Gewinnerin eines Preisausschreibens dabei. Gemeinsam mit Nevio und einem Game Master starten sie eine Partie. Bald jedoch beginnt die KI, sich nicht mehr an die vereinbarten Regeln zu halten. Das Spiel wird zum Überlebenskampf.

Escape Rooms sind schon seit einigen Jahren ein beliebtes Event und auch ich habe schon einige besucht. Während die meisten Anbieter für eine Partie auf Rätsel in ein bis zwei Räumen setzen, werden einige kreativer. Bei meinem persönlichen Favoriten muss man zum Beispiel krabbeln und klettern, um in den nächsten Raum zu gelangen und in einem Horror-Szenario, das ich mich bislang nicht getraut habe zu spielen, wird mit echten Schauspielern gearbeitet. Insofern kann ich gut verstehen, dass Maxim als Protagonist des Roman die Zukunft seiner klassischen Escape Rooms durch das neue Angebot auf der Burg bedroht sieht. Immer neue Rätsel, kreiert von einer KI und dargeboten in Räumen, die gänzlich mit LED-Screens ausgekleidet wurden, um ein möglichst immersives Erlebnis zu bieten.

Da es sich um einen Thriller handelt weiß man natürlich, dass etwas schief gehen wird. Erst einmal ließ ich mich aber von der Begeisterung der Teilnehmer packen, die sich an die Lösung der ersten Rätsel machen. Immer wieder wechselt die Perspektive auch zu Alissa und ihren Kolleg:innen, die sich in der Burg um das Organisatorische kümmern sollen und das Event über Bildschirme beobachten. Sie haben lange alles für die große Eröffnung vorbereitet und stehen dementsprechend unter Druck, dass beim Testlauf alles perfekt ist.

Bald gibt es erste Anzeichen, dass etwas nicht nach Plan läuft, welche die Teilnehmer jedoch nur geringfügig beunruhigen. Als die KI sich schließlich ganz querstellt, kippt die Stimmung schnell. Ich war gespannt, wie die unterschiedlichen Charaktere sich im Anblick der aussichtlosen Situation verhalten werden. Der Thriller bietet Spannung und Nervenkitzel, sodass ich zügig weiterlesen wollte. In der zweiten Buchhälfte erlebte ich dann jedoch ein paar kleine Längen, da zwar immer neue Schrecken geboten werden, aber die Handlung nicht mehr so recht vorankommt. Zum Ende hin gibt gibt es einige Enthüllungen im Hinblick auf Geheimnisse der Charaktere, die mich trotz vorheriger Hinweise überraschen konnten. Auch für die Frage, warum die KI so böse werden konnte, wird eine Erklärung geliefert, die Diskussionspotenzial bietet, ob es wirklich so weit kommen könnte. Wer Escape Rooms und Thriller mag, der sollte sich dieses Buch nicht entgehen lassen!

Freitag, 22. März 2024

Rezension: Hallo du Schöne von Ann Napolitano

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Hallo du Schöne
Autorin: Ann Napolitano
Übersetzer: Werner Löcher-Lawrence
Erscheinungsdatum: 26.02.2024
Verlag: Dumont (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband
ISBN: 9783832169459
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In ihrem Roman „Hallo du Schöne“ betrachtet die US-Amerikanerin Ann Napolitano verschiedene Familienkonstellationen und deren mögliche Vor- und Nachteile. Aus einer personalen Erzählperspektive geschrieben, nimmt die Autorin die Schwestern Julia und Sylvie Padavano sowie William Waters in den Fokus. Zu Beginn des Romans sind die drei Protagonist(in)en am Beginn ihres Studiums beziehungsweise ihrer Ausbildung. Im letzten Drittel kommt noch eine weitere interessante Perspektive einer jüngeren Person hinzu. Titelgebend für das Buch ist die typische Begrüßung von Vater Padavano für seine vier Töchter. Das Cover ist ein richtiger Hingucker, der meiner Meinung nach bestens zum Titel passt.

Die Geschichte beginnt 1978 und endet 2008. William gab mir als Leserin zunächst einen Einblick in seinen Alltag als Student und erfolgreicher Basketballspieler. Er erinnert sich aber auch an seine Kindheit und Jugend. Gleich der erste Satz des Roman erschütterte mich mit einem einschneidend tragischen Ereignis, denn Williams Schwester starb wenige Tage nach seiner Geburt. Seine Eltern verharren in ihrer Trauer und er erfährt wenig Zuneigung von ihnen. Als er mit achtzehn Jahren die ein Jahr jüngere Julia am College in Chicago kennenlernt, erlebt er in deren Familie einen außergewöhnlichen Zusammenhalt. Zwar gibt es auch zwischen den Geschwistern und deren Eltern Zwistigkeiten, doch sie lachen gemeinsam und unterstützen sich bei Ängsten und Sorgen.

Julia hat bestimmte Vorstellungen von ihrer Zukunft, bei der sie eine Karriere anstrebt und sich an der Seite als Ehefrau von William sieht. Die scheue Sylvie wünscht sich eine große Liebe, doch zunächst gibt sie sich mit Liebeleien zwischen den Regalen der Bibliothek, in der sie arbeitet, zufrieden. Ihr jüngeres Geschwister Cecelia hat eine künstlerische Ader und ist ein Freigeist, wohingegen ihre Zwillingsschwester Emeline eine fürsorgliche Art hat. Die vier Frauen halten in allen Krisen zueinander, aber als das Schicksal 1983 besonders hart zuschlägt, steht ihr Zusammenhalt auf dem Prüfstand und treibt die Familie auseinander. Das letzte Drittel des Romans bringt nochmal, so wie der Beginn, eine Feststellung, die ins Bewusstwerden einschneidet.

Ann Napolitano versteht es, die Einsamkeit, die einer Person innewohnen kann, sichtbar zu machen. Wenn man allein lebt, ist man mitunter nicht so einsam, als wenn man sich nicht geliebt und behütet fühlt. Obwohl William Wertschätzung in seinem Umfeld erfährt, hat er das psychische Trauma seiner Kindheit nie aufgearbeitet. Durch die Erzählperspektive lassen sich die Beweggründe für das Handeln der einzelnen Figuren sehr gut nachvollziehen. Nicht immer gibt es eine beste Lösung für Probleme im Leben. Ann Napolitano zeigt auf berührende Weise wie wichtig es ist, andere Ansichten zu respektieren, zu verzeihen und zu vergeben.

Durch den Wechsel zwischen den Erzählperspektiven überschneidet sich die Handlung an manchen Stellen, was im mittleren Teil zu kleineren Längen führt, aber auch für ein tieferes Verständnis des Verhaltens von William, Julia und Sylvie sorgt. Liebe in vielen Facetten sorgen in der Geschichte für ein abwechslungsreiches Lesen, kleine Geheimnisse bringen eine hintergründige Spannung.

In ihrem Roman „Hallo du Schöne“ verbindet Ann Napolitano erfreuliche und tragische Ereignisse einer US-amerikanischen Familie über dreißig Jahre hinweg. Es gelang ihr, die Gefühle der handelnden Personen an mich als Leserin weiter zu transportieren. Daher vergebe ich sehr gerne eine Leseempfehlung.

Sonntag, 17. März 2024

Rezension: Gruß aus der Küche von Ingrid Noll

 


Rezension von Ingrid Eßer


Titel: Gruß aus der Küche
Autorin: Ingrid Noll
Erscheinungsdatum: 21.02.2024
Verlag: Diogenes (Link zur Buchseite des Verlags=
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783257804553

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Ein „Gruß aus der Küche“ ist in der französischen Kochkunst gebräuchlich und gibt dem gleichlautenden Roman von Ingrid Noll den Titel, allerdings ist die 40-jährige Köchin Irma als eine der Protagonist(innen) tief in ihrer deutschen Heimat verwurzelt. Auf mich als Leserin wirkte sie nicht so brav wie die Porträtierte auf dem Cover des Buchs. In ihrem Restaurant „Aubergine“, in dem sie ausschließlich vegetarische und vegane Gerichte anbietet, ist sie tagsüber in einem Outfit anzutreffen, das dem Namen ihres Gasthauses alle Ehre macht. Obwohl sie eine soziale Ader hat, versteht sie es, ihre Ansichten und Forderungen durchzusetzen.

Neben Irma nimmt die Autorin auch Josch, Lucy und Vinzent in den Fokus der Kapitel. Alle erzählen aus der Ich-Perspektive. Josch ist Kellner. Von Größe und Umfang her könnten er und Irma kaum verschiedener sein, doch sie mögen einander. Irma ist von seinen administrativen Kenntnissen abhängig, aber auch eifersüchtig, wenn er anderen Frauen mehr als schöne Augen macht. Die schusselige und gefühlsgesteuerte 17-jährige Lucy hat die Schule abgebrochen und probiert sich im Restaurant in einem Beruf aus, während der über 80 Jahre alte Vinzent, seines Zeichens Doktor der Altertumskunde, einen Zeitvertreib in der Küche beim Gemüseschneiden sucht. Außerdem nimmt Hilfsköchin Nicole, Irmas gute Freundin seit Kindertagen, eine größere Rolle in der Geschichte ein. Im Sprachstil zeigt die Autorin sich diesmal gestaltungsreich und firm mit eingestreutem Denglisch, Anglizismen und antiquierten Begriffen von Vinzent.

Ingrid Noll ist bekannt für ihre Romane, in denen sie mit Witz und Verve einen raffiniert ausgeführten Mordfall beschreibt. Beim Lesen dachte ich einige Male, dass nun bald jemand das Zeitliche segnen wird. Ob und wann es dazu kommt, verrate ich nicht, aber wie gewohnt ist die Geschichte in einem lakonisch sarkastischen Stil geschrieben. Die Protagonist(innen) lieben und schlagen sich im übertragenen Sinn. Aus Ärger wird Rachsucht und auf einen ersten Streich folgt ein weiterer. Es gibt in der Regel immer eine Person mit Verständnis für das Opfer des Pranks, so dass sich Bündnisse ergeben, die sich wieder auflösen und neuformieren. Nicht immer hat der Spaß die gewünschte Wirkung. Daraus resultieren einige unerwartete Wendungen und zum Ende hin gibt es noch eine Überraschung, die ich so nicht erwartet hätte. Eine hintergründige Spannung ist durchgehend vorhanden, bietet aber keinen Höhepunkt.

„Gruß aus der Küche“ von Ingrid Noll ist ein schalkhafter Roman mit Biss, der zeigt, wie vielseitig ein Amuse Bouche sein kann. Locker-flockig vereint die Autorin in der Geschichte die Lebenswelt von Jung und Alt, deren gemeinsames Anliegen es ist, die Gäste der Gaststätte mit vegetarischen Gerichten zufrieden zu stellen. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.


Samstag, 16. März 2024

Buddyread zum Roman "Hallo du Schöne" von Ann Napolitano - 3. Leseabschnitt

 


Buddy-Read von Ingrid (buchsichten) mit Patricia (Patno) (https://nichtohnebuch.blogspot.com)

Hanna und ich kennen Tanja und Patricia (kurz: Patno) vom Blog "Nicht ohne Buch" schon seit vielen Jahren und treffen bei buchigen Events immer wieder auf die beiden. Darum habe ich mich besonders gefreut, dass Patno sich gemeldet hat, als ich ein(e) Partner(in) zu einem Buddyread für das Buch "Hallo du Schöne" gesucht habe. Wir haben den Roman in drei Leseabschnitte eingeteilt.


3. Leseabschnitt: ab Seite 339 bis zum Schluss (506 gesamt)

Liebe Patno,

 

nachdem die Geschichte einige Zeit im Jahr 1984 verharrte, weil die Ereignisse den Schwestern und William in wesentlichem Maße zusetzten, eilen die Jahre zu Beginn des dritten Leseabschnitts nur so dahin. Der erste Satz des neuen Abschnitts traf mich als Leserin sofort ins Herz. Darin sagt Julia ihrer fünfjährigen Tochter, dass ihr Vater verstorben ist. In diesem Moment wurde mir Julia unsympathisch, was sich in der Folgezeit weiter verstärkte. Wie ist es dir dabei gegangen, als du gelesen hast, dass Julia für sich und ihre Tochter weiteren Kontakt zur Familie ablehnt? 

Liebe Ingrid,  

um ehrlich zu sein, mit Julia habe ich von Anfang an gehadert. Sie ist wie ein Schweizer Uhrwerk. Sie geht unbeirrt ihren Weg ohne Rücksicht auf Verluste. Julia hat beschlossen, den Kontakt zu ihrer Familie abzulehnen und dann gilt das eben auch für ihre Tochter. Ihre Härte und Unnachgiebigkeit kennen keine Grenzen. Auch wenn das bedeutet, den Vater ihrer Tochter für tot zu erklären. Aber da Alice ihrem Vater sehr ähnlich sieht, wird Julia jeden Tag an seine Existenz erinnert. Alice ist mir ans Harz gewachsen. Sie ist eine interessante Mischung aus Williams und Julias Charakter. Ihre Darstellung fand ich besonders gelungen. Wie ist es Dir mit Alice gegangen. Mochtest Du sie? 

 Ja, ich mochte sie und konnte ihre introvertierte Art gut nachvollziehen. Mit ihr kommt eine neue Sicht auf die Geschehnisse ins Spiel. Da sie wenig Emotionen nach außen zeigt und gern für sich bleibt, konnte ich auf diese Weise mehr über ihre Gefühle erfahren. Hätte die Autorin sie nicht in den Fokus gestellt, denke ich, wäre sie eine Randfigur geblieben. Ich finde die Perspektiven, auch von William, Julia und Sylvie, von Ann Napolitano geschickt gewählt, denn die großen Schicksale des Romans treffen vor allem diese vier und durch ihren Blick auf die Ereignisse war ich tief berührt. Hättest du dir noch die Sichtweise einer anderen Person gewünscht?

Ich fand es klasse, dass die Autorin Alice eine zentrale Rolle gegeben hat, denn die vier Schicksale sind nun einmal besonders eng miteinander verbunden. Mir persönlich haben die Informationen über die Randfiguren ausgereicht. Nein, ich hätte mir keine weitere Sichtweite gewünscht. Wie hast Du die tragische Wendung in der Geschichte empfunden? Damit hatte ich nicht gerechnet, aber es hat gut gepasst. Die Entwicklung von William fand ich auch gut dargestellt. Fandest Du William sympathisch? 

Die Wende hatte ich so nicht kommen sehen. Allerdings hatte ich mir schon gedacht, dass Julia und William keine ideale Ehe führen werden, dazu lag der von Julia gesetzte Maßstab zu hoch. William hat das Trauma seiner Kindheit nie überwunden, insofern habe ich sein Verhalten zwar nicht gutgeheißen, aber ihn dafür auch nicht verurteilt.

Ann Napolitano hat in ihrem Roman die verschiedensten Familienkonstruktionen eingebracht und auch die unterschiedlichen Erziehungsstile von Rose, Julia und Cecelia. Ich hätte nicht gedacht, dass Julia sich so verkrampft zeigt. Offensichtlich hat sie in New York für sich selbst Vergnügen gefunden. Patno, denkst du, dass sie sich dennoch einsam fühlte und darum ihre Tochter dauerhaft an sich binden wollte? Cecelias Art mit Izzy umzugehen, fand ich dagegen cool. Ungewöhnlich fand ich Emelines Wunsch nach Pflegekindern. Ich hätte viel zu sehr mein Herz an die Kleinen gegeben und sie vermutlich nicht mehr hergeben wollen. 

Julias Verhalten habe ich tatsächlich geahnt. Es hat zu ihrer Charakterdarstellung gepasst. Ich denke schon, dass der Ausweg nach New York gut in ihren Plan gepasst hat. Nach außen hin gibt sie sich stark und vergnügt, aber innerlich haben ihr die Schwestern bestimmt sehr gefehlt. Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie einsam war. Mit Sicherheit hat ihr Silvie jeden Tag gefehlt. Da ist es nur logisch, sich an Alice als Rettungsanker zu klammern. Schon nach dem ersten Leseabschnitt war Cecelia mein Lieblingscharakter und das hat sich durch das Buch durchgezogen. Die Nummer mit Emelie und den Pflegekindern fand ich merkwürdig. Besser hätte ich es gefunden, wenn sie ein Kind zur Pflege genommen oder adoptiert hätten.  

Ann Napolitano erklärt in ihrer Danksagung mehr oder weniger, wie die Geschichte entstanden ist. Dennoch frage ich mich, welche ähnlichen Dramen sie selbst in ihrer Familie erlebt hat, um die Gefühle der Personen so nachvollziehbar wiedergeben zu können. Zum Schluss hätte ich gerne noch mehr über die nächsten Schritte von William und Alice erfahren, aber vielleicht gibt es irgendwann eine Fortsetzung. Für mich ist der Roman trotz ein paar kleiner Längen eine Leseempfehlung wert. 

Hat nicht jeder von uns sein Pölsterchen zu tragen? Ich denke, Ann Napolitano hat sich in ihre Figuren sehr intensiv hineinversetzt und sicher spielt da auch die eine oder andere persönliche Erfahrung eine Rolle. 
Für mich klingt der Roman in sich abgeschlossen. Ich glaube, es hat mir ausgereicht zu sehen, dass sich Vater und Tochter Stück für Stück annähern. Eine Fortsetzung kann ich mir nicht so richtig vorstellen. 
Was die Leseempfehlung betrifft, bin ich ganz Deiner Meinung. Ein toller Roman, der Denkanstöße bietet und den anspruchsvollen Leser sucht. 

Liebe Ingrid, nun sind wir am Ende unseres Buddyreads angekommen. Es hat Spaß gemacht, mich mit Dir gemeinsam zu lesen. Sollten wir bei Gelegenheit wiederholen.  

Liebe Patno, vielen Dank, dass du meine Lesepartnerin warst und mir mein erstes Buddyread ermöglicht hast. Es war eine interessante Erfahrung. Vielleicht finden wir uns wieder einmal zum Lesen und Austauschen zusammen.

 


Freitag, 15. März 2024

Rezension: Ein falsches Wort von Vigdis Hjorth


Ein falsches Wort
Autorin: Vigdis Hjorth
Übersetzerin: Gabriele Haefs
Hardcover: 400 Seiten
Erschienen am 13. März 2024

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Bergjlot hat zwei jüngere Schwestern und einen älteren Bruder. Ihre eigenen Kinder sind schon erwachsen, da bricht unter ihren Geschwistern ein Streit ums Erbe der Eltern aus. Einst wurde ihnen versprochen, dass sie alle gleich viel erben sollen. Doch nun haben die Eltern den jüngeren Schwestern Astrid und Åsa je eine der beiden Hütten in Hvaler überschrieben und dabei einen sehr niedrigen Wert angesetzt. Ihr Bruder Bård fühlt sich ungerecht behandelt und möchte Bergjlot auf seiner Seite wissen. Die ist erstaunt, dass sie überhaupt noch etwas erben soll, hat sie doch Jahre zuvor den Kontakt zur Familie gänzlich abgebrochen. Auf Bårds Drängen hin äußert sie sich schließlich doch dazu. Aber je mehr sie sich dadurch wieder mit ihrer Familie beschäftigen muss, desto stärker dringen alte, schmerzhafte Erinnerungen an die Oberfläche.

Auf der ersten Seite der Geschichte informierte die Ich-Erzählerin Bergjlot mich, dass ihr Vater seit fünf Monaten tot ist. Danach beginnt sie ihren Bericht, was sich in den Wochen davor und danach zugetragen hat. Zunächst dreht sich alles um den Streit ums Erbe: Die beiden jüngeren Schwestern möchten Auseinandersetzungen verhindern, finden die Überschreibung der Hütten an sie aber auch fair, da sie seit Jahren viel mehr Zeit mit den Eltern verbringen haben als Bård und Bergjlot. Aus Sicht der beiden älteren Geschwister gab es gute Gründe für ihr Fernbleiben, doch diese werden zunächst nicht ausgeführt.

Der ganze Roman ist aus der Perspektive der Ich-Erzählerin Bergljot geschrieben. Selbst die Briefe und Mails, die sie mit ihren Geschwistern austauscht, fasst sie mit eigenen Worten zusammen. Dadurch entsteht ein einseitiger Blick auf die Ereignisse. Es wird immer deutlicher, dass Bergjlot das Erbe tatsächlich relativ egal ist und ich fragte mich, warum sie den Kontakt zur Familie abgebrochen hat. Ihre Gedanken kreisen, aber immer, wenn sie sich den Gründen nähert drehen sie ab. Sie erwähnt, dass sie viele Jahre Therapie in Anspruch genommen hat wegen Dingen, die ihr als Kind widerfahren sind. In der zweiten Buchhälfte gelingt es ihr schließlich besser, das Unaussprechliche zumindest grob in Worte zu fassen.

Wie reagiert eine Familie auf schwerwiegende Anschuldigungen aus ihrer Mitte, an denen sie eigentlich zerbrechen müsste? In diesem Fall entscheidet sie sich für Verleugnung zugunsten von Harmonie. Bergjlot ist eine unzuverlässige Erzählerin, doch mit der Zeit konnte ich immer besser nachvollziehen, wie sehr sie unter den Reaktionen ihrer Familie leidet. Ihre ganze Wut, Enttäuschung und Trauer bricht hervor, die alten Wunden werden durch den Erbstreit aufgerissen, während ihre Familie auf Versöhnung drängt. Doch den dafür aufgestellten Regeln, die besagen, dass sie dafür von ihrer Wahrheit abrücken muss, kann sich Bergjlot nicht fügen. 

Die Rückblicke in die Vergangenheit, wie es der Erzählerin als junge Erwachsene ergangen ist, brachten für mich nur wenig Erkenntnisgewinn und ich erlebte während der Lektüre durch sich wiederholende Kommunikationsmuster einige Längen. Aus meiner Sicht ist es aber letztendlich die mangelnde Figurenentwicklung, die den Roman ausmacht und zu der schmerzaften Erkenntnis führt, dass manche Wunden nicht heilen können, wenn niemand seine Sicht auf die Dinge überdenken möchte. Eine eindrückliche Lektüre, die nachhallt.

Donnerstag, 14. März 2024

Buddyread zum Roman "Hallo du Schöne" von Ann Napolitano - 2. Leseabschnitt

 


Buddy-Read von Ingrid (buchsichten) mit Patricia (Patno) (https://nichtohnebuch.blogspot.com)

Hanna und ich kennen Tanja und Patricia (kurz: Patno) vom Blog "Nicht ohne Buch" schon seit vielen Jahren und treffen bei buchigen Events immer wieder auf die beiden. Darum habe ich mich besonders gefreut, dass Patno sich gemeldet hat, als ich ein(e) Partner(in) zu einem Buddyread für das Buch "Hallo du Schöne" gesucht habe. Wir haben den Roman in drei Leseabschnitte eingeteilt.


2. Leseabschnitt: von Seite 167 bis 338 (506 gesamt)

Liebe Patno,

 

das Verhalten von William im zweiten Leseabschnitt fand ich verstörend, konnte die von ihm gezogenen Konsequenzen aber auch nachvollziehen, obwohl ich sie nicht gutheiße. In seinem Leben hat er zunächst wenig Liebe erfahren und sich mehrfach als Versager erlebt. Glücklicherweise hat er dennoch Freunde, die ohne Wenn und Aber an seiner Seite stehen. 

 

Liebe Ingrid, 

 

mir ging es ähnlich. Von Anfang an wirkte William auf mich emotionslos, was allerdings bei diesen Eltern durchaus nachvollziehbar ist. Erst war mir unbegreiflich, dass er so einen radikalen Bruch mit Frau und Kind vollzieht. Später wird klar, dass William Angst hatte, den Menschen weh zu tun. Ich finde es klasse, wie sich sein Freund Kent und das Basketball-Team um ihn kümmern. 

 

Endlich erfuhr ich auch, ob sich das bewegende Gefühl, dass sich zwischen William und Sylvie zeigte und von beiden zunächst als unerwünscht zur Seite geschoben wurde, weiter entwickeln konnte. Sylvie weiß, wenn sie ihrem Empfinden folgt, wird sie Julia weh tun. Wie hättest du dich an Sylvies Stelle entschieden? Ich finde es schwierig, aus der heutigen Sicht zu entscheiden, welchen Weg man in den 1980ern genommen hätte. Mit dem jetzigen Wissen hätte ich wie Sylvie entschieden.

 

Ich glaube, ich hätte tatsächlich wie Sylvie entschieden. Die beiden Schwestern waren sich zwar immer sehr nah, aber Julia hatte William bereits abgeschrieben. Sie ist so klar und strukturiert, wirkt aber auf mich sehr kühl und distanziert. Sie muss alles im Griff haben und durchplanen. Mit Sylvie konnte ich eher sympathisieren. Sie ist nicht so aalglatt und eben nicht perfekt. Auch sie wird von düsteren Gedanken heimgesucht und ich glaube, sie versteht Williams Handlungen und kann besser damit umgehen. 

 

Über mehr als einhundert Seiten hinweg behandelt die Geschichte einen Zeitraum von nur etwa fünf Monaten, der aus drei Perspektiven geschildert wird. Zwangsläufig kommt es dazu, dass gewisse Situationen dann aus den verschiedenen Sichten geschildert werden. Was denkst du: hätte es gereicht, wenn nur ein(e) Protagonist(in) die wichtigsten Ereignisse erzählt hätte?

 

Ich denke auch, dass dieser Teil der Geschichte den Lesefluss etwas verlangsamt. Hier hätte ich es mir etwas komprimierter gewünscht. Durch diese verschiedenen Sichtweisen wiederholen sich ein paar Dinge. Mir persönlich hätte auch eine Protagonist(in) gereicht, um die wichtigsten Details zu erfahren. Es ist dieser typische amerikanische Schreibstil, detailverliebt und ausschweifend. Trotzdem bewegt mich das Gelesene und ich bin gespannt, wie es im dritten Teil weitergeht. 

Wie empfindest Du das Verhalten der Zwillinge? Sie stehen schon zwischen den Fronten, aber ich finde es toll, wie sie sich verhalten. 

 

Die Zwillinge sind als Figuren sehr unterschiedlich. Gut ist es, wenn in einer Familie Konflikte vorliegen und dann mindestens ein oder eine andere(r) sich nicht einfach nur zurückzieht und sagt: „Sollen die doch ihre Differenzen untereinander ausmachen“, sondern sich Gedanken macht und zu einer Lösung beiträgt. So, wie die Zwillinge es halten, denke ich, ist es das richtige Maß zwischen Abstand und Einmischen, aber hin und wieder kann vermutlich nur die Zeit zu einer Entspannung der Gesamtsituation beitragen. Leider sind die Fronten manchmal arg verhärtet und ich frage mich, wie sich das Verhältnis der Schwestern im Roman zueinander weiterentwickeln wird.


Rezension: Der ehrliche Finder von Lize Spit

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Der ehrliche Finder
Autorin: Lize Spit
Übersetzerin aus dem Niederländischen: Helga von Beuningen
Erscheinungsdatum: 13.03.2024
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783103975642
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Die Novelle „Der ehrliche Finder“ der Belgierin Lize Spit ist eine Geschichte über die Freundschaft zweier Jungen, die sich in viele Eigenschaften unterscheiden. Die Erzählung spielt Ende des letzten Jahrhunderts in dem fiktiven belgischen Ort Bovenmeer.  

Einer der beiden Protagonisten ist Jimmy. Er ist etwa neun Jahre alt und besucht die dritte Schulklasse. Als einziges Kind seiner Eltern lebt er nach dem Auszug seines Vaters im Einfamilienhaus allein mit seiner Mutter. Jimmy sammelt mit Begeisterung die sogenannten Flippos, die seit Mitte der 1990er einige Zeit bestimmten Chipstüten in Belgien beilagen und von denen es damals weit über 500 mit verschiedenen Cartoons gegeben hat. Er ist ein sehr guter Schüler und wahrheitsliebend. Eines Tages sieht er Geld in einem Bankautomaten stecken, nimmt es an sich, gibt es aber bald darauf der Besitzerin wieder zurück, die inzwischen nach ihrer Abhebung sucht. Der Titel nimmt hierauf Bezug.

Die zweite Hauptfigur ist der elfjährige Tristan, der eines Tages zum Mitschüler von Jimmy wird. Er ist mit seinen Eltern und sieben Geschwistern aus dem Kosovo geflohen. Obwohl er zunächst kaum ein Wort Deutsch spricht, werden die beiden schnell Freunde. Die Familie von Tristan wartet darauf, das Bleiberecht in Belgien zu erhalten. Um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass die Genehmigung erteilt wird, denkt Tristan sich etwas aus und bittet Jimmy um Mithilfe. Doch für die Freunde wird die Umsetzung des Plans zum Drama.

Das Gefühl der Einsamkeit kennt Jimmy sehr gut. In Tristans Familie lernt er den Zusammenhalt und das Füreinanderdasein kennen und schätzen. Entsprechend der Erzählungen des Freund stellt Jimmy sich vor, welchen Strapazen Tristan auf der Flucht ausgesetzt war. Mit seiner Hilfsbereitschaft versucht er ihm das jetzige Leben zu erleichtern. Außerdem hofft er darauf, dass der Freund seine Sammelleidenschaft teilt und sie dadurch einem gemeinsamen Hobby nachgehen können.

Die Autorin lehnt ihre Geschichte an dem wahren Schicksal einer geflüchteten Familie aus dem Kosovo an. Ihre Schilderungen sind ergreifend, aber ich hätte gerne noch einiges mehr über das Leben der beiden Familien erfahren aus der Zeit, bevor die Jungen sich miteinander befreundet haben. Das Thema der Asylsuchenden ist und bleibt aktuell und mit Konflikten belastet.

Lize Spit verdeutlicht in ihrem Buch „Der ehrliche Finder“, dass die Freundschaft von Kindern auf anderen Faktoren beruht als auf gesellschaftlichem Stand, Alter und Geschlecht. Zwar bleibt die Novelle weit hinter ihren ausführenden Möglichkeiten zum Thema Asyl zurück, ist aber lesenswert und bewegend. 


Mittwoch, 13. März 2024

Rezension: Der ehrliche Finder von Lize Spit


Der ehrliche Finder
Autorin: Lize Spit
Übersetzerin: Helga van Beuningen
Hardcover: 128 Seiten
Erschienen am 13. März 2024

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Jimmy ist ein begeisterter Sammler. Sein Taschengeld nutzt er, um Chipstüten zu kaufen, denn in jeder befindet sich ein Flippo. Jeden Tag fährt er auf dem Rad durch die Stadt auf der Suche nach Münzen. Die fünftausend Franc, die er bei seiner Runde im Geldautomat findet, muss er jedoch wieder zurückgeben, sodass sein Traum von einer vollständigen Sammlung schnell wieder in die Ferne rückt.

Seine doppelten Flippos hebt Jimmy für Tristan auf, um ihn damit irgendwann zu überraschen. Dieser ist sein bester Freund, seit er vor etwas mehr als einem Jahr in der Schule neben ihn gesetzt wurde. Gemeinsam mit seiner Familie ist er aus dem Kosovo bis nach Belgien geflüchtet. Jimmy ist begeistert, als er von Tristan eingeladen wird, bei ihm zu übernachten. In den gemeinem Plan, den Tristan mit seiner Schwester Jetmira ausgeheckt wird, soll er jedoch erst am nächsten Tag eingeweiht werden.

Das neue Werk von Lize Spit ist eine Novelle, die in Belgien als kostenlose Geschichte in der Buchwoche erschienen ist. Zu Beginn lernte ich Jimmy kennen, der stolz darauf ist, Tristan seinen besten Freund nennen zu dürfen. Seit dessen Ankunft in seinem Ort lernt Jimmy fleißig mit ihm die Sprache. Allerdings wird er schnell eifersüchtig, wenn Tristan Zeit mit anderen verbringt. Umso mehr freut er sich über die Einladung zur Übernachtung bei Tristan und seiner großen Familie.

Ich konnte gut nachvollziehen, wie faszinierend die Großfamilie Ibrahimi auf Jimmy wirken muss, der allein bei seiner Mutter wohnt, seit der Vater die Familie verlassen hat. Doch das muntere Treiben ist alles andere als sorgenfrei. In diversen Szenen zeigt sich, dass Tristan und seine Familie schwere Traumata erlitten haben, als sie zu Fuß bis nach Belgien geflüchtet sind. Und nun droht die Abschiebung. 

Die Geschichte setzt sich schließlich auf bedrückende Weise mit der Frage auseinander, wie weit ein Kind zu gehen bereit ist, um im Land und damit in Sicherheit bleiben zu dürfen. Das Ende ist jedoch abrupt und insgesamt hätte ich mir einen stimmigeren Handlungsbogen gewünscht. Die fünftausend-Franc Szene zu Beginn und auch Jimmys Flippo-Sammlerei haben am Ende wenig mit dem zentralen Thema der Novelle zu tun. Dieses hätte man noch intensiver ausschöpfen können, damit die knapp über 120 Seiten bei diesem schweren und wichtigen Thema noch eindringlicher nachwirken.

Rezension: Da waren Tage von Luna Ali

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Da waren Tage
Autorin: Luna Ali
Erscheinungsdatum: 13.03.2024
Verlag: S. Fischer (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783103975505

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Die Autorin Luna Ali schaut in ihrem Roman „Da waren Tage“ auf die politischen Entwicklungen ihres Geburtslands Syrien seit 2011. Ihr Protagonist Aras ist als Kind mit seiner Mutter und seiner Schwester Lamia aus Aleppo geflohen. Sein Vater ist aus politischen Gründen verschwunden. Nach dem Abitur beginnt Aras ein Jurastudium. Aber er beabsichtigt nicht, für Gerechtigkeit zu sorgen, sondern er möchte Gesetze bestmöglich in seinem und dem Sinne seiner Familie auslegen.

Am 15. März 2011, dem Beginn der Proteste gegen Syriens Machthaber, befindet sich Aras im ersten Semester. Ab diesem Zeitpunkt begleitet die Autorin ihren Protagonisten Jahr für Jahr an diesem Tag. Die Aufstände verfolgt er im Fernsehen, doch er fühlt sich ihnen nicht nahe. Seit über zehn Jahren wird er in Deutschland vom Äußeren her als fremd wahrgenommen, doch er hat die Sprache schnell gelernt, ist politisch aktiv und betätigt sich sportlich. In den Folgejahren begegnete ich als Leserin Aras beispielsweise wegen einer Verpflichtungserklärung bei der Ausländerbehörde, als Syro-Deutscher in einer Fernseh-Talkshow mit prominenten Gästen, als Praktikant bei der Botschaft Jordaniens und als Crewmitglied eines Rettungsschiffs.

Aras ist vom Leid Verwandter und Bekannter in Syrien betroffen, obwohl er fern der Aufstände ist. Luna Ali schildert seinen Alltag, der austauschbar ist und doch geprägt wird von dem Wissen um all jene, die Gewalt erleben und denen er sich menschlich nahe fühlt. Seine Feinfühligkeit geht soweit, dass er sich in seinen Träumen in bedrohlichen Situationen wiederfindet und diese Eingang in seine Realität halten. Durch Engagement versucht er mit seinen Mitteln den vom Konflikt in Syrien Betroffenen Hilfe zu bieten, wo immer er kann.

In den ersten Kapiteln wirkt die Sprache, die die Autorin nutzt, teilweise verdreht. Später las ich von der Bedeutung des Tauschs von Subjekt und Objekt im Satz, denn durch den Wechsel der Satzglieder wird es Aras möglich, anders zu denken und Ereignisse zu erfassen, die andernorts stattfinden. Auch auf andere Weise spielt Luna Ali mit Sprache und deren Darstellung. Zum Beispiel ist eines der Kapitel im Querformat gedruckt und handelt von einer verzweifelten Suche des Protagonisten nach einer geliebten Person. Dabei stehen Erzählung, Gedanken, belanglose Feststellungen und Listen gleichwertig versetzt nebeneinander und spiegeln den inneren Aufruhr von Aras wieder. Ein anderes Kapitel besteht aus der Rede des Protagonisten vor den Mitgliedern des Flüchtlingsrats. In einem letzten Kapitel springt die Autorin in eine unbekannte Zukunft, der sie sich philosophisch nähert.

In ihrem Debütroman „Da waren Tage“ beeindruckt Luna Ali mit einer vielschichtigen Ausgestaltung der Sprache, die sich mit der wechselnden Gefühlswelt des Protagonisten Aras ändert, der in Deutschland das Revolutionsgeschehen in seinem Geburtsland Syrien in den Medien verfolgt. Das Geschehen sieht er mit seinem juristischen Wissen nicht nur kritisch im Rahmen von Gesetzen, sondern lässt zunehmend die Schicksale der unter dem Konflikt Leidender an sich heran. Gerne empfehle ich das Buch weiter.


Dienstag, 12. März 2024

Buddyread zum Roman "Hallo du Schöne" von Ann Napolitano - 1. Leseabschnitt

 




Buddy-Read von Ingrid (buchsichten) mit Patricia (Patno) (https://nichtohnebuch.blogspot.com)

Hanna und ich kennen Tanja und Patricia (kurz: Patno) vom Blog "Nicht ohne Buch" schon seit vielen Jahren und treffen bei buchigen Events immer wieder auf die beiden. Darum habe ich mich besonders gefreut, dass Patno sich gemeldet hat, als ich ein(e) Partner(in) zu einem Buddyread für das Buch "Hallo du Schöne" gesucht habe. Wir haben den Roman in drei Leseabschnitte eingeteilt.


1. Leseabschnitt: bis Seite 166 von 506

Liebe Patno,

ich freue mich sehr, dass wir uns zu einem Buddy-Read zusammengefunden haben. Der Roman „Hallo du Schöne“ von Ann Napolitano ist für mich ein echter Hingucker. In einer Buchhandlung würde er mir bestimmt auffallen und ich würde mir das Buch genauer anschauen. Wie gefällt dir das Cover?

 Liebe Ingrid,

die Freude über unseren Buddy-Read ist auch bei mir groß. Obwohl wir uns schon einige Jahre kennen, ist diese gemeinsame Leseaktion eine Premiere. Nun zu Deiner Frage. Das Buchcover ist der Hammer. Man kann es in keiner Buchhandlung übersehen. Man kann sich der Schönheit nicht entziehen und damit passt es perfekt zur Story. 

Den Titel finde ich einprägsam, dachte aber zunächst, dass er sich nur auf Julia, als älteste der vier Schwestern, in der Geschichte beziehen würde. Obwohl in der Inhaltsangabe nicht von einer besonders schönen Person gesprochen wird, habe ich beim Aufschlagen des Buchs mit einer Schönheit als Figur gerechnet. Hast du dir vor dem Lesen Gedanken zum Titel gemacht?

Um ehrlich zu sein, vermeide ich es, mir im Vorfeld Gedanken über den Buchtitel zu machen. Das weckt Erwartungen und ich gehe lieber neutral an eine Geschichte heran. Schon nach den ersten gelesenen Seiten packt mich das Geschehen. 

Ich finde es interessant, die Charaktere kennenzulernen. Zwischendurch habe ich das Gefühl, dass die Story etwas vor sich hin plätschert. Da hätte es für meinen Geschmack etwas mehr Pepp sein können. Aber zum Ende des ersten Leseabschnittes nimmt die Handlung an Fahrt auf. Wie bist Du gestartet?

Ich bin nicht so die Lyrikleserin und konnte zunächst mit dem vorgeschobenen Gedicht von Walt Whitman wenig angefangen. Den ersten Satz des Romans habe ich dann zweimal gelesen, um mir seine Bedeutung bewusst zu machen: William wird geboren und hat ein Geschwister, das er nie kennenlernen wird. Das ging ganz tief rein bei mir. Später stellt die Autorin deutlich heraus, wie verschieden die Schwestern im Denken und Handeln sind. Da stimme ich dir zu, dass die Geschichte dabei in der Entwicklung nicht vorankommt.

 Fragen kommen auf. Wer sind wir und was hat uns geprägt? Wie sehr kann ein Schicksalsschlag Menschen verändern? Als William von seiner Kindheit erzählt, bekomme ich eine Gänsehaut. Was sind das bitte für Eltern?! Einerseits bringe ich Verständnis für ihr Trauma auf, aber andererseits bin ich schockiert, dass ihr Sohn mit voller Härte diese Empathielosigkeit zu spüren bekommt. Als Mutter möchte ich William in den Arm nehmen und ihm das Gefühl geben, dass er wichtig ist, ihn motivieren und eine Richtung weisen. Die Freude ist groß, als er auf die taffe Julia trifft, die für ihn die Zügel in die Hand nimmt. Julias Familie wirkt auf den ersten Blick ganz anders. Mit ihren drei Schwestern hält sie zusammen wie Pech und Schwefel. Schaut man jedoch bei den Eltern hinter die Kulissen, offenbart sich ein anderes Drama. Oje! Jeder hat eben sein Päckchen zu tragen.

 Ja, jeder geht anders mit Trauer um. Aber mit einem solchen Verhalten der Eltern hätte ich auch nicht gerechnet. Anfang der 1960er Jahre hat sicher auch niemand danach gefragt, wie geht es den Hinterbliebenen und angeboten, ob man drüber reden möchte. Ob das geholfen hätte, kann ich aber auch nicht einschätzen, dafür bleiben sie zu weit im Hintergrund. Bei Julias Familie ist mir aufgefallen, wie sehr die Schwestern um eine gute Ausbildung kämpfen müssen. Im Vergleich dazu hatten wir es in Deutschland im gleichen Zeitraum mit staatlichen Hilfen leichter und konnten eher ein selbstbestimmtes Leben anstreben.

 Julia und William sind das Traumpaar, aber William kann nicht aus seiner Haut. Er hat es nie gelernt seine Wünsche und Sehnsüchte zum Ausdruck zu bringen. Bleibt abzuwarten, ob und wie die beiden die Kurve kriegen. Wie sieht Du das?

 Darauf bin ich auch gespannt. Vor allem deswegen, weil sich zwischen William und Sylvie ein Gefühl eingeschlichen hat, das beide vorher anscheinend nicht kannten. Ich weiß noch nicht, ob ich das als mehr Verständnis füreinander deuten soll und ob William daher in Bezug auf Julia Konsequenzen gezogen hat.

 Der erste Leseabschnitt endet mit einem Cliffhanger und jetzt bin ich sehr gespannt, wie sich die Geschichte weiterentwickelt. Hast Du schon einen Lieblingscharakter? Ich mag Cecelia besonders. Sie geht unbeirrt ihren Weg, auch wenn es holprig wird.

Emeline gefällt mir am besten. Sie ist bisher gegenüber den anderen Schwestern noch nicht in besonderer Weise aufgefallen, aber wenn sie gebraucht wird, ist sie für die anderen da. Mal schauen, ob sie im weiteren Verlauf noch eine größere Rolle spielen wird. 


Montag, 11. März 2024

Rezension: Schwestern in einem anderen Leben von Christiane Wünsche

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Schwestern in einem anderen Leben
Autorin: Christiane Wünsche
Erscheinungsdatum: 28.02.2024
rezensierte Buchausgabe: Klappenbroschur
ISBN: 9783810530936
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In ihrem Roman „Schwestern in einem anderen Leben“ schreibt Christiane Wünsche über die rebellische Reaktion der 16-jährigen Schülerin Rebecca im Jahr 1976 auf eine Weisung ihrer auf den Ruf bedachten Eltern hin. Ihr Handeln führt dazu, dass sich die Ausgestaltung ihres weiteren Lebenswegs maßgeblich verändert. Die Verbindung zu ihren beiden Schwestern wäre bei einer anderen Entwicklung vielleicht herzlich und zugeneigt gewesen, nun wird sie getragen von Kummer und Schuld.

Auf einer zweiten Handlungsebene in der Gegenwart las ich von der alleinstehenden Rosi, die mit verschiedenen betreuenden Tätigkeiten ihren Unterhalt bestreitet. Sie ist freundlich und hilfsbereit. Schon nach wenigen Seiten wird deutlich, dass sie die erwachsene Rebecca ist. Eines Abends wird sie von einem Fernsehbericht erschüttert, der lange verdrängte Erinnerungen an ihre Vergangenheit wachruft. Sie beginnt zu grübeln, ob der Bruch mit ihrer Familie noch zu heilen ist und wenn ja, ob es sinnvoll für die Beteiligten, Kontakt zu suchen .

Die Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit, von der die Autorin gehört hat. Wer schon einmal eine Vermisstensendung im Fernsehen gesehen hat, weiß, wie bewegend es ist zu sehen, wenn Angehöriger eine verschwundene und gesuchte Person wiederfinden. Ebenso berührend schreibt Christiane Wünsche über das Schicksal von Rebecca. Der Zufall verhilft ihr dazu, dass sie ihr Vorhaben umsetzen kann. In ihrer Verzweiflung hat sie den Heimatort hinter sich gelassen und kann in einer Wohngemeinschaft bleiben.

Auf ihrem weiteren Leben bewegt sie sich in verschiedenen sozialen Schichten. Dadurch gelingt es der Autorin in die Zeit passende, angesagte gesellschaftspolitische Themen einzubinden. Sie betrachtet auch die Kehrseite von Rebeccas Entschluss, ihre Familie zu verlassen, denn sie ist an gering bezahlte Arbeiten gebunden, weil sie sich ohne Papiere nicht traut, eine Ausbildung zu absolvieren oder eine weiterführende Schule zu besuchen. Die gewählte Freiheit darin, ihre Zukunft selbst zu gestalten, wird dadurch eingeschränkt.

Der Roman ist nicht nur mit dem Fokus auf Rebecca/Rosi geschrieben, sondern wechselt auch immer wieder hin zu Rebeccas jüngerer Schwester Miriam und ihrer Mutter Hilde. Auf diese Weise wird deutlich, dass die Verschwundene sehr vermisst wird. Außerdem wird die Position der Eltern untermauert und dem Lesenden dadurch ein früher durchaus übliches Zeitbild beschrieben. Die Darstellung des Umfelds war realistisch und nachvollziehbar.

Christiane Wünsche greift in ihrem Roman „Schwestern in einem anderen Leben“ das Schicksal einer verschwundenen Person auf, die lebenslang unter anderem Namen lebt. Basierend auf wahren Ereignissen unter Einbindung zeitgeschichtlichen Geschehens beschreibt die Autorin einfühlsam, wie sich Unauffindbare und Vermissende in einer solchen Lage fühlen. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung für das Buch.

Samstag, 9. März 2024

Rezension: Hallo, du Schöne von Ann Napolitano


Hallo, du Schöne
Autorin: Ann Napolitano
Übersetzer: Werner Löcher-Lawrence
Hardcover: 520 Seiten
Erschienen am 26. Februar 2024
Verlag: DuMont Buchverlag
Link zur Buchseite des Verlags

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William Waters ist ein Einzelkind, seit seine drei Jahre alte Schwester kurz nach seiner Geburt überraschend verstorben ist. Seine Eltern haben diesen Schicksalsschlag nie ganz überwunden und ihm wenig Liebe zukommen lassen. Seine Tage verbringt William mit Basketball spielen und ist schließlich so gut, dass er ein Stipendium für die Northwester University in Chicago erhält und sein bisheriges Leben hinter sich lässt. Dort lernt er Julia Padavano kennen, die mit ihren Eltern und ihren drei Schwestern in der Nähe des College wohnt. Als die beiden ein Paar werden, wird William in der Familie herzlich aufgenommen. Ihr Leben scheint vorgezeichnet: Eine gemeinsame Wohnung, Hochzeit, Kinder und Karriere. Doch dann kommt es zu unerwarteten Ereignissen, welche alle Charaktere aus der Spur werfen. Wie werden sie unter den veränderten Bedingungen ihre Zukunft gestalten?

Das Buch beginnt im Jahr 1987 mit dem Kennenlernen von William und Julia. Ich erhielt einen kurzem Abriss über Williams Kindheit und bevor ich mich versah waren die beiden ein Paar. Nach dem ersten Kapitel aus Williams Perspektive wechselt diese zu Julia und es ging in ebenso hohem Tempo weiter: Die beiden verloben sich und beschließen, zu heiraten. Die dritte im Bunde, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird, ist Julias Schwester Sylvie. Sie arbeitet seit ihrem dreizehnten Lebensjahr in einer Bibliothek, da ihr das Geld fürs College fehlt. Wärhend sie darauf wartet, dass ihr die große Liebe begegnet, lässt sie sich von diversen Jungen zwischen den Bücherregalen küssen.

Nach dem zügigen Einstieg spielt ein großer Teil der Geschichte in den Jahren 1982 bis 1984. Hier tauchte ich tiefer in das Leben der vier Schwestern und William ein. Auch wenn das Buch aus drei Perspektiven erzählt wird erfuhr ich ebenfalls so manches über die Zwillingsschwestern Cecelia und Emelina sowie ihrer Eltern Rose und Charlie. Die Charaktere wurden mir schnell sympathisch und die ersten schicksalhaften Entwicklungen ließen mich hoffen und bangen. Es kommt zu Brüchen, die mich hoffen ließen, dass sie wieder gekittet werden können. Doch manche Entscheidungen scheinen unwiderruflich.

Beim Lesen dieses Familienromans erlebte ich die ganze Bandbreite an Emotionen. Es geht um Liebe und Zusammenhalt, aber auch Eifersucht und Enttäuschung. Ann Napolitano behandelt die Themen gefühlvoll und mit großer Sensibilität. Ich lernte die Charaktere immer besser kennen, die einfach nicht aus ihrer Haut können. Ihre Entscheidungen, so folgenreich sie auch sein mögen und so unverständlich andere sie auch finden, wurden mir begreiflich gemacht. Zum Ende hin wird es noch einmal hochemotional und ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Auch wenn ich mit den Figuren noch mehr Zeit hätte verbringen können, ist die Länge des Romans genau richtig und dieser rundum gelungen. Für mich ein echtes Herzensbuch, das ich absolut weiterempfehlen kann!

Freitag, 8. März 2024

Rezension: Heimwärts von Michael Lentz

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Heimwärts
Autor: Michael Lentz
Erscheinungsdatum: 28.02.2024
Verlag: S. Fischer (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783103975185
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Der Autor Michael Lentz bedauert, dass sein Vater früher wenig von seiner Kindheit erzählt hat. In seinem Roman „Heimwärts“ widmet er sich den eigenen Erinnerungen an die Zeit im Elternhaus in der rheinischen Kleinstadt Düren. Seit vielen Jahren lebt er in Berlin und erzählt inzwischen auch seinem Sohn von seinen jungen Jahren.

Der Vater des Autors saß der Stadtverwaltung vor und war dadurch eine öffentliche Person. Manches Mal gelang es ihm nicht, seinen Beruf an der Haustür abzustreifen. Er war streng und zur Durchsetzung seines Willens kam es vor, dass er seinen Sohn zügelte, ohne dass seine Frau eingriff. Die Mutter des Autors nahm die klassische Hausfrauenrolle ein, mit der sie, nach Meinung ihres Sohns, nicht zufrieden war.

Doch nicht die Eltern von Michael Lentz stehen in seinem Roman im Mittelpunkt, sondern das Verhalten des Autors als Kind und wie seine Eltern darauf reagiert haben. Es ist eine lose Sammlung von Gedanken, die er in Kapitel zusammenfasst, welche er mit jeweils einem Wort betitelt. Er erinnert sich beispielsweise an die Truhe im Flur des Elternhauses, ans Lernen, eine Spieluhr, seine Ferien und Osterfeste.

Michael Lentz beschreibt feinsinnig nicht nur die Situationen, die ihm in den Sinn kommen, sondern auch, was ihn darin innerlich bewegte und warum er wie handelte. Er lässt den Lesenden tief in seine reiche Vorstellungswelt als Kind schauen und erzählt von seinen Ängsten, seinen Problemen, seinen Träumen und Wunschvorstellungen. Immer wieder versinkt er in seinen eigenen Kosmos, der ihn bis heute begleitet und einzigartige Basis für seine Texte ist. Der Autor gibt zu bedenken, dass er seine Erinnerungen aus heutiger Sicht wiedergibt und damals auch aus anderen Gründen motiviert gewesen sein könnte.

Immer wieder wechselt er unvermittelt die Perspektive und gibt seinem Sohn Worte ein, die dieser über die eigenen Kindheitstage der letzten Jahre erzählt. Es zeigt sich, dass er sich als Vater so verhält, wie er es sich von seinen Eltern für sich gewünscht hätte. Die Übergänge zwischen den Ansichten sind fließend und werden meist mit einem Verweis auf die inzwischen vergangenen Jahre angekündigt. Manchmal bemerkte ich allerdings die Veränderung erst nach mehreren Sätzen. Der Vergleich der Welt eines Kinds von heute und gestern fand ich interessant, denn die jeweiligen Eigenheiten in der Erziehung sind zu erkennen.

Da ich im gleichen Alter wie der Autor bin, habe ich mich gerne gemeinsam mit ihm zurückerinnert. Weil meine Heimatstadt nur 50 km westlich von Düren liegt und ich die Örtlichkeiten kenne, bin ich die Wege mitgegangen und habe mich ebenfalls am Erkennen der mir bekannten regionaler Besonderheiten erfreut, wie zum Beispiel die Sprichworte der Mutter oder die erwähnten Speisen.

Im Roman „Heimwärts“ denkt Michael Lentz an seine Kindheit zurück und nimmt den Lesenden mit zu seinen Erinnerungen an ein Alltagsleben zwischen der Öffentlichkeit des Vaters, der Heimat schaffenden Mutter, dem Verankert sein zwischen den Geschwistern und seinem reichen Innenleben mit Furcht, Respekt und Erlebnishunger. Er findet durch seinen Sohn den Vergleich mit der Gegenwart. Gerne bin ich ihm in die Vergangenheit gefolgt und empfehle das Buch weiter.


Sonntag, 3. März 2024

Rezension: Deine Margot von Meri Valkama

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Deine Margot
Autorin: Meri Valkama
Übersetzerin aus dem Finnischen: Angela Plöger
Erscheinungsdatum: 16.02.2024
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
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Nach dem Tod ihres Vaters findet Vilja beim Aufräumen in seiner Wohnung in Helsinki ein Bündel Briefe, das in einer Blechdose steckt. Jeder von ihnen ist mit „Deine Margot“ unterschrieben. Dieser Umstand gibt dem Debüt der finnischen Autorin Meri Valkama den gleichlautenden Titel. Die Kastanien auf dem Schutzumschlag des Buchs stehen in Bezug auf den Spitznamen von Vilja als Kind, an den sie sich nicht erinnert. Der Vorname des Politikers der DDR auf der fingierten Briefmarke, die oben rechts auf dem Cover zu sehen ist, dient als Pseudonym dem Herrn, dem Margot ihre Liebe schenkt. Die Geschichte spielt auf zwei Handlungsebenen. Einerseits begleitete ich als Leserin Vilja auf ihrer Spurensuche nach Margot ins Berlin des Jahres 2011. Auf der anderen Seite erfuhr ich, wie es ab 1983 zu der Beziehung der Titelgeberin mit ihrem Liebhaber gekommen ist.

Vilja kann sich aufgrund einer Kindheitsamnesie an die mit der Familie erlebten Jahre in Berlin nur bruchstückhaft erinnern. Ihr Vater Markus ist Auslandskorrespondent einer finnischen Zeitung. Mit ihren Eltern und ihrem älteren Bruder zieht Vilja 1983 von der finnischen Heimat aus nach Ost-Berlin. Bald geht Vilja dort in die Kindertagesstätte, die es immer noch gibt, als sie 2011 die deutsche Hauptstadt besucht. Ansonsten hat sich dort einiges geändert. Die Streitigkeiten zwischen Vater und Mutter führten in den 1980er Jahren dazu, dass die Familie 1987 zurück nach Finnland gezogen ist. Vilja vermutet nach ihrem Fund einen Zusammenhang zwischen dem Umzug und den Briefen von Margot. Einige Jahre danach haben sich ihre Eltern getrennt.

Die Geschichte wechselt nicht nur zwischen den Handlungszeiten, sondern auch zwischen den in den Kapiteln im Fokus stehenden Personen. Meri Valkama schreibt als allwissende Erzählerin, wodurch der Lesende von den Gefühlen der entsprechenden Figur unmittelbar erfährt und auch eine Erklärung für deren Handeln erhält. Bei Viljas Mutter Rose schaut sie auf ein Problem, mit dem viele Frauen kämpfen: den Haushalt führen und die Kinder erziehen, während man sich gleichzeitig im Beruf behaupten möchte. Doch die Arbeitstage von Markus werden zunehmend länger, wofür er ihr immer eine gute Erklärung liefert. Die beiden führen eine Ehe, bei der sie sich einig sind, dass Spielereien mit anderen Partnern erlaubt sind, solange man treu bleibt.

Der Roman beginnt mit dem letzten Brief von Margot, der einen Monat vor dem Fall der Berliner Mauer geschrieben wurde. Weitere Briefe sind in unregelmäßigen Abständen zwischen den Kapiteln zu finden. Sie gehen zeitlich immer weiter im Datum zurück. Ende September des gleichen Jahres teilt Margot ihrem Liebhaber mit, dass sie ihren Mitbewohner als Volksverräter verhaftet haben. Ihre Angst, ebenfalls unter Beobachtung zu stehen, ist deutlich aus ihren Zeilen herauszulesen. Sie fürchtet auch, dass die Liebe zueinander sich verändert hat. Eine düstere Ahnung bemächtigt sich Viljas, als diese mehr zum Thema des Beschattens in der DDR erfährt und sich fragt, wer für die Inhaftierung verantwortlich ist. Sie erkennt, dass das verdeckte leidenschaftliche Verhältnis auch durch die politischen Verhältnissen geprägt wurde.

Viljas Mutter will sich nicht an die Zeit in Berlin erinnern und rät ihr, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Der Tod ihres Vaters und die durch die Briefe veranlasste Entdeckung, dass ihr die Erinnerung an die Kindheit in großen Teilen fehlt, wirken sich auf Viljas Gemütszustand aus. Dadurch fühlt sie sich veranlasst, skeptisch ihre eigene Beziehung in den Blick zu nehmen.

Meri Valkama versteht es vorzüglich, einen Teil der deutschen Geschichte mit einer Liebesaffäre zu verknüpfen, die sie einfühlsam beschreibt und auch darauf schaut, wie sich das familiäre Umfeld dabei verändert. Tiefgehend schaut sie auf zerbrechliche Bindungen, die jede und jeder von uns eingeht und stellt die Frage in den Raum, inwieweit man sich den Erinnerungen widmen sollte, wenn man fest in der Gegenwart verankert ist. Sehr gerne vergebe ich eine Leseempfehlung für den Roman „Deine Margot.  


Samstag, 2. März 2024

Rezension: Schwestern in einem anderen Leben von Christiane Wünsche


Schwestern in einem anderen Leben
Autorin: Christiane Wünsche
Broschiert: 416 Seiten
Erschienen am 28. Februar 2024
Verlag: FISCHER Krüger
Link zur Buchseite des Verlags

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Die Sommerferien des Jahres 1976 verbringt die sechzehnjährige Rebecca die meiste Zeit mit ihrer Clique an Waldsee. Zu dieser gehört auch der Musiker Ulf, der ihr Freund ist und den sie ihren Eltern verheimlicht. Die unbeschwerte Zeit findet für Rebecca kurz nach Ferien ein jähres Ende. Als sie sich von ihren Eltern im Hinblick auf ihre Zukunft in die Enge gedrängt fühlt, trifft sie eine folgenschwere Entscheidung.

Im Jahr 2023 führt Rosi ein ruhiges Leben mit vielen Freunden und Bekannten. Ihre Familie sieht sie jedoch als unerreichbar an und verbietet sich die Gedanken an diese. Eine Meldung im Fernsehen treibt die alten Erinnerungen schließlich an die Oberfläche und sie erinnert sich zurück, welchen Verlauf ihr Leben in den letzten Jahrzehnten genommen hat.

Der Roman beginnt mit einem Prolog, in dem eine grauhaarige Frau nach langer Zeit in ein Dorf zurückkehrt, in dem sie sich einst gut auskannte. Danach lernte ich Rebecca und ihre Familie im Jahr 1976 sowie Rosi im Jahr 2023 kennen. Aufgrund vieler Andeutungen war mir der Zusammenhang zwischen den Erzählsträngen schnell klar, dennoch hatte ich zahlreiche Fragen im Hinblick auf das Warum und Wieso.

In den Kapiteln, die in der Vergangenheit spielen, gibt es nicht nur Erzählabschnitte aus der Sicht von Rebeca, sondern auch aus der Sicht von ihrer Schwester Miriam und ihrer Mutter Hilde. So erhielt ich umfassende Einblicke in die Familiendynamik und welche Konsequenzen Rebeccas Handeln nicht nur für sie selbst, sondern auch für die anderen Mitglieder der Familie hat. Das emotionale Chaos, das in Rebecca tobt, wurde mir begreiflich gemacht und ich konnte nachvollziehen, wie sie zu ihrer Entscheidung gekommen ist.

Im Laufe der Geschichte fiel es mir allerdings zunehmend schwer, weiterhin Verständnis für Rebecca aufzubringen. Nachdem sie Abstand zu der ganzen Situation gewonnen hat und sich in Ruhe Gedanken über ihre Zukunft machen kann, handelt sie im Hinblick auf ihre Familie immer wieder kaltherzig. Das Leid der Familienmitglieder äußert sich auf ganz unterschiedliche Weise und ich erlebte dieses auf beklemmende Weise mit.

Rosis Erinnerungen an die Vergangenheit sind abwechslungsreich und nahmen mich mit durch mehrere Jahrzehnte deutsche Geschichte. Themen wie das Leben in Kommunen, die Suche nach den verbleibenden Mitgliedern der RAF, die Punkszene und das aufkommende Interesse für Bio-Produkte werden im Roman auf interessante Weise behandelt. Für mich als Düsseldorferin war es schön, dass weite Teile der Geschichte in der Umgebung spielen und mich an viele bekannte Orte führten. Das Ende des Romans stimmte mich schließlich auch im Hinblick auf Rebecca ein wenig versöhnlich. Gerne empfehle ich "Schwestern in einem anderen Leben" an alle weiter, die Lust auf eine berührende Familiengeschichte haben.

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