Montag, 27. August 2018

[Rezension Hanna] Guten Morgen, Genosse Elefant - Christopher Wilson


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Guten Morgen, Genosse Elefant
Autor: Christopher Wilson
Übersetzer: Bernhard Robben
Hardcover: 272 Seiten
Erscheinungsdatum: 16. August 2018
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
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Der zwölfjährige Juri Zipit wohnt im Jahr 1954 mit seinem Vater, der als Tierarzt arbeitet, in einer Personalwohnung des Hauptstadtzoos in Moskau. Mit sechs Jahren hatte er einen schweren Unfall. Seither vergisst er häufiger Dinge und hat gelegentlich Anfälle. Eines Abends wird sein Vater vom Geheimdienst abgeholt, um einen Patienten zu behandeln. Juri begleitet ihn als Assistent. Die Überraschung ist groß, als der Patient kein Tier ist, sondern der Stählerne höchstpersönlich, der überzeugt ist, dass alle Humanmediziner Verschwörer sind. Er ist von Juris liebem Gesicht und scheinbar einfachen Charakter so angetan, dass er ihn auf der Stelle zu seinem neuen Vorkoster ernennt. So erlebt Juri hautnah, was im Zentrum der russischen Macht vor sich geht.

Juri ist ein ganz besonderer Charakter, der sich dem Leser zu Beginn des Buches selbst vorstellt. Er lebt mit seinem Vater im Zoo und hat sich damit abgefunden, dass er seit seinem Unfall sechs Jahre zuvor oft Wörter oder Erinnerungen vergisst und an Epilepsie leidet. Denn gleichzeitig ist er sehr wissbegierig und kennt sich mit vielen Dingen aus, von denen seine Klassenkameraden keine Ahnung haben. Außerdem hat er ein liebes, stets lächelndes Gesicht, das dazu führt, dass ihm Fremde ständig vertrauliche Dinge erzählen, die er gar nicht hören will. Seine Mutter war Ärztin und einfach verschwunden, als er fünf Jahre alt war. Auch sein Vater lebt in ständiger Angst, eines Tages abgeholt zu werden und hat Juri eingeschärft, im Ernstfall so wenig wie möglich zu sagen.

Als die Geheimpolizei Juri und seinen Vater eines abends tatsächlich mitnimmt, passiert das aus ganz anderen Gründen als erwartet. Sie werden zum kranken Stählernen geführt, der von Juris Vater begutachtet werden soll. Dessen Diagnose gefällt ihm nicht, doch Juri will er als Vorkoster behalten. So gerät Juri völlig unvorbereitet in ein Schlangennest, in dem alle einander hintergehen und ihre eigene Agenda verfolgen. Von seiner Arglosigkeit wollen verschiedene Personen profitieren und versuchen ihn für ihre persönlichen Zwecke einzuspannen.

Juri sieht und erlebt vieles, dass er nicht ganz versteht. Zu Beginn realisiert er nicht einmal, dass er tatsächlich für Stalin arbeitet. Von seinem neuen Umfeld als einfältig abgestempelt erlebt er als stummer Zuhörer manch streng geheime Szene mit. Seine erschreckenden Schilderungen machten mich als Leser betroffen und zeigen die Willkürlichkeit, mit der in totalitären Systemen Entscheidungen über Leben und Tod getroffen werden.

Das Leben als Vorkoster ist ein Tanz auf Messers Schneide, denn viele sind schon an Gift gestorben. Er schwebt in ständiger Gefahr und ist auf sich allein gestellt. Seine Erlebnisse als Vorkoster enthielten für mich jedoch zu viele wiederkehrende Beschreibungen von Saufgelagen und Schimpftiraden. Auf der anderen Seite gibt es viele skurrile Szenen, zum Beispiel bei der Vorführung amerikanischer Filme, die mich trotz der ernsten Gesamtsituation zum Schmunzeln brachten.

Bei „Guten Morgen, Genosse Elefant“ handelt es sich um eine fiktive Geschichte, welche vieles ganz bewusst überspitzt und es mit den historischen Fakten nicht immer so genau nimmt. Trotzdem vermittelt sie einen Eindruck davon, wie es im innersten politischen Kreis Russlands in der Zeit vor Stalins Tod zugegangen sein könnte, wo niemand dem anderen traut und niemand sich in Sicherheit wägen kann. Juris Geschichte ist tragisch, sein Optimismus und seine kindliche Gutgläubigkeit rührend. Ich empfehle diese ungewöhnliche, dramatische Geschichte mit vielen satirischen Elementen sehr gerne weiter!
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