Benjamin Woods nahm mich als Leserin in seinem Roman „Der
Krabbenfischer“ mit zurück in die 1960er Jahre. Thomas Flett ist sein
Protagonist und gleichzeitig die Titelfigur der Geschichte. Er ist zwanzig
Jahre alt, lebt in einer kleinen englischen Stadt am Meer und hat das Handwerk
des Krabbenfischens bereits als Schüler von seinem inzwischen verstorbenen Großvater
gelernt. Mit Pferd und Wagen zieht er an jedem Morgen, manchmal sogar ein
zweites Mal am Tag, bei Niedrigwasser Netze durchs Watt, um Krabben zu fangen. Die
körperlich anstrengende Tätigkeit zehrt an ihm, Es ist eine mühselige Arbeit,
die gerade genug einbringt, um sich und seiner Mutter das Überleben zu sichern.
Während andere Krabbenfänger längst motorisiert arbeiten,
fehlt Thomas das Geld für moderne Technik. Die Motivation für seine Tätigkeit
nimmt zusehends ab. Bisher hat er sich nicht getraut, einer jungen Frau Avancen
zu machen, obwohl er sich zu der Schwester eines Freunds hingezogen fühlt.
Seit einiger Zeit hat ein gesteigertes Interesse daran
entwickelt, selbst Musik zu machen. Doch er glaubt nicht daran, dass sich sein
Hobby dafür geeignet, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Vor seiner Mutter hält
er sein musikalisches Interesse geheim. Seinen Vater hat er nie kennengelernt. In
ihrer Gegenwart traut er sich nicht aufzubegehren. In all den Jahren hat sie
ihm den Haushalt geführt, Regeln gesetzt und ihm Antrieb gegeben. Ohne zu
hinterfragen, hat er sich ihrem Willen stets gefügt.
Das Leben von Thomas scheint in festgefahrenen Bahnen zu
verlaufen, bis eines Tages ein erfahrener Regisseur bei ihm zu Hause
vorspricht, um seine Expertise in Bezug auf Kenntnisse im Watt einzuholen und
dafür eine hohe Bezahlung bietet. Für ihn öffnet sich dadurch eine Pforte in eine
Welt, von der er bisher nicht wusste, welche Möglichkeiten sie für ihn bereithält.
Benjamin Wood gelingt es eindrucksvoll, die innere Zerrissenheit seines
Protagonisten und dessen Loyalität gegenüber seiner Familie herauszuarbeiten.
Seine detailreichen Beschreibungen der Natur lassen das Meer und den Strand im Kopf entstehen und man glaubt, die Gerüche einzuatmen und Geräusche
zu hören. Von Beginn an hofft man für Thomas, dass er es schafft, aus der Enge
seines Alltags auszubrechen und sich selbst zu verwirklichen.
„Der Krabbenfischer“ von Benjamin Wood ist eine leise, aber tief berührende Geschichte über zu ergreifende Chancen im Leben, die der Autor ruhig, aber nie langweilig mit einer Spur magischen Realismus erzählt und am Schluss mit einer unerwarteten Wendung überrascht. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.