Freitag, 22. August 2025

Rezension: Du musst meine Hand fester halten, Nr. 104 von Susanne Abel

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Du muss meine Hand fester halten, Nr. 104
Autorin: Susanne Abel
Erscheinungsdatum: 14.08.2025
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband
ISBN: 9783423283922
------------------------------------------------------------------------------------------

„Du musst meine Hand fester halten, Nummer 104“ sagt die elfjährige Margret auf dem Weg zur Christmette 1947 zu dem sechs Jahre jüngeren Hartmut, den sie später Hardy nennen wird. Es ist eisig an diesem Tag im Sauerland und der kleine Junge droht hinzufallen. Die beiden wohnen in einem Kinderheim und sind die Hauptfiguren in dem nach dieser Szene benannten Roman von Susanne Abel.

Margret ist ein Waisenkind aus Gelsenkirchen. Auch Hardy ist vermutlich eine Waise. Er kam am Ende des Zweiten Weltkriegs mit einem Kindertransport aus Danzig. Sein Name auf dem Pappschild, das er umgehängt trägt, ist verwischt, sein Alter wird geschätzt. Als Margret eines Tages von einer Tante zu sich genommen wird, verliert sie Hardy zunächst aus den Augen. Nach ihrer Volljährigkeit beginnt Margret als Stationshilfe in einem Heim, in dem Hardy inzwischen lebt.

Parallel zu diesem Handlungsstrang erzählt Susanne Abel von Margret und Hardy in den Jahren 2006 bis 2017. Die beiden sind verheiratet und haben inzwischen eine Urenkelin, deren Mutter bei der Geburt noch recht jung war. Sie fällt dem Jugendamt durch eine Unregelmäßigkeit in der Betreuung ihres Kindes auf. Die Angelegenheit führt dazu, dass bei Margret und Hardy schmerzhafte Erinnerungen aus der Kindheit aufbrechen. Stillschweigend hatten sie bisher ihre Vergangenheit ruhen lassen.

In den folgenden Jahren werden sie immer wieder mit Situationen konfrontiert, die verdrängte Gefühle an die Oberfläche holen und sie an die Grenzen des Erträglichen bringen. Margret war stets diejenige und ist es immer noch, die sich um alltäglich zu verwaltende und organisatorische Aufgaben kümmert, während Hardys Stärken mehr im Praktischen liegen.

Es ist berührend, darüber zu lesen, wie Margret sich um Hardy kümmert. Doch die beiden haben ihre Ecken und Kanten, von denen sie einige voreinander zu verbergen suchen. Susanne Abel schreibt aus der Perspektive einer allwissenden Erzählerin und rückt in jeder Szene den Fokus auf eine Hauptfigur, deren Gedanken- und Gefühlswelt dadurch besonders erfahrbar wird. Dadurch kommt es bisweilen zu raschen Wechseln zwischen den Akteuren. Die Autorin war eine Weile als Erzieherin beschäftigt, so dass ihre Darstellung kindlicher Erfahrungen authentisch erscheinen.

Der Triggerhinweis zu Beginn des Romans ist berechtigt, denn die Jahre in einem Waisenhaus sind für beide Kinder verbunden mit Zurechtweisungen und harten Bestrafungen für unerwünschtes Verhalten. Beim Lesen hofft man die ganze Zeit, dass jedes Kind, das in einem der beschriebenen Heime lebt, von einer liebevollen Familie aufgenommen werden wird. Die Autorin verweist in diesem Zusammenhang auf die Arbeit des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes, der vor allem in den Nachkriegsjahren unzählige Kinder mit Familienangehörigen wiedervereinen konnte. Jedoch erfährt Margret bei ihren Verwandten keine ausreichende Wertschätzung und erlebt ein traumatisierendes Ereignis.

Als Margret älter ist und sich selbst um hilfsbedürftige Personen kümmert, erschrickt sie über sich selbst als sie feststellt, dass sie nach dem gleichen Muster von Strenge und Härte agiert, die sie in ihrer Kindheit und Jugend erlitten hat. Im Rahmen der Heimunterbringung von Hardy beschreibt Susanne Abel, wie er ruhig gestellt wurde, eine Begebenheit die äußerst berührend und erschütternd ist, jedoch leider keine Fiktion, sondern auf wahren Ereignissen beruht, die die Autorin recherchiert hat.

Erneut ist es Susanne Abel mit „Du musst meine Hand fester halten, Nr. 104“ gelungen einen zutiefst bewegenden Roman zu schreiben. Die Handlung reicht von den 1940er Jahren bis in die Gegenwart. Die Autorin beleuchtet dabei das Schicksal von Waisen ebenso wie die Herausforderungen berufstätiger, alleinerziehender Mütter sowie den aktuellen Einfluss von Social Media auf das Familienleben. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung für dieses Buch, das einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt. 




-->