„Du musst meine Hand fester halten, Nummer 104“ sagt die elfjährige
Margret auf dem Weg zur Christmette 1947 zu dem sechs Jahre jüngeren Hartmut,
den sie später Hardy nennen wird. Es ist eisig an diesem Tag im Sauerland und
der kleine Junge droht hinzufallen. Die beiden wohnen in einem Kinderheim und
sind die Hauptfiguren in dem nach dieser Szene benannten Roman von Susanne
Abel.
Margret ist ein Waisenkind aus Gelsenkirchen. Auch Hardy ist
vermutlich eine Waise. Er kam am Ende des Zweiten Weltkriegs mit einem
Kindertransport aus Danzig. Sein Name auf dem Pappschild, das er umgehängt
trägt, ist verwischt, sein Alter wird geschätzt. Als Margret eines Tages von
einer Tante zu sich genommen wird, verliert sie Hardy zunächst aus den Augen. Nach
ihrer Volljährigkeit beginnt Margret als Stationshilfe in einem Heim, in dem
Hardy inzwischen lebt.
Parallel zu diesem Handlungsstrang erzählt Susanne Abel von Margret
und Hardy in den Jahren 2006 bis 2017. Die beiden sind verheiratet und haben
inzwischen eine Urenkelin, deren Mutter bei der Geburt noch recht jung war. Sie
fällt dem Jugendamt durch eine Unregelmäßigkeit in der Betreuung ihres Kindes
auf. Die Angelegenheit führt dazu, dass bei Margret und Hardy schmerzhafte
Erinnerungen aus der Kindheit aufbrechen. Stillschweigend hatten sie bisher ihre
Vergangenheit ruhen lassen.
In den folgenden Jahren werden sie immer wieder mit
Situationen konfrontiert, die verdrängte Gefühle an die Oberfläche holen und sie
an die Grenzen des Erträglichen bringen. Margret war stets diejenige und ist es
immer noch, die sich um alltäglich zu verwaltende und organisatorische Aufgaben
kümmert, während Hardys Stärken mehr im Praktischen liegen.
Es ist berührend, darüber zu
lesen, wie Margret sich um Hardy kümmert. Doch die beiden haben ihre Ecken und
Kanten, von denen sie einige voreinander zu verbergen suchen. Susanne Abel schreibt
aus der Perspektive einer allwissenden Erzählerin und rückt in jeder Szene den
Fokus auf eine Hauptfigur, deren Gedanken- und Gefühlswelt dadurch besonders erfahrbar
wird. Dadurch kommt es bisweilen zu raschen Wechseln zwischen den Akteuren. Die
Autorin war eine Weile als Erzieherin beschäftigt, so dass ihre Darstellung kindlicher
Erfahrungen authentisch erscheinen.
Der Triggerhinweis zu Beginn des
Romans ist berechtigt, denn die Jahre in einem Waisenhaus sind für beide Kinder
verbunden mit Zurechtweisungen und harten Bestrafungen für unerwünschtes
Verhalten. Beim Lesen hofft man die ganze Zeit, dass jedes Kind, das in einem
der beschriebenen Heime lebt, von einer liebevollen Familie aufgenommen werden
wird. Die Autorin verweist in diesem Zusammenhang auf die Arbeit des Suchdienstes
des Deutschen Roten Kreuzes, der vor allem in den Nachkriegsjahren unzählige
Kinder mit Familienangehörigen wiedervereinen konnte. Jedoch erfährt Margret
bei ihren Verwandten keine ausreichende Wertschätzung und erlebt ein traumatisierendes
Ereignis.
Als Margret älter ist und sich
selbst um hilfsbedürftige Personen kümmert, erschrickt sie über sich selbst als
sie feststellt, dass sie nach dem gleichen Muster von Strenge und Härte agiert,
die sie in ihrer Kindheit und Jugend erlitten hat. Im Rahmen der
Heimunterbringung von Hardy beschreibt Susanne Abel, wie er ruhig gestellt
wurde, eine Begebenheit die äußerst berührend und erschütternd ist, jedoch
leider keine Fiktion, sondern auf wahren Ereignissen beruht, die die Autorin
recherchiert hat.
Erneut ist es Susanne Abel mit „Du
musst meine Hand fester halten, Nr. 104“ gelungen einen zutiefst bewegenden
Roman zu schreiben. Die Handlung reicht von den 1940er Jahren bis in die
Gegenwart. Die Autorin beleuchtet dabei das Schicksal von Waisen ebenso wie die
Herausforderungen berufstätiger, alleinerziehender Mütter sowie den aktuellen
Einfluss von Social Media auf das Familienleben. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung
für dieses Buch, das einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt.