Rezension von Ingrid Eßer
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Die 36-jährige Protagonistin des Romans „Gym“ von Verena
Kessler benötigt unbedingt die Tätigkeit als Tresenkraft im Fitnessstudio, für
die sie beim Besitzer vorspricht. Zwei Gründe, warum es unbedingt dieser Job
sein soll, finden sich auf den ersten Seiten, aber der mit ihrer Vergangenheit
zusammenhängende wichtigste Grund wird zunächst nur angedeutet. Beim
Bewerbungsgespräch stellt sich heraus, dass sie mit ihrem schludrigen Aussehen
und der fülligen Figur nicht dem Bild entspricht, welches der Inhaber des
Studios sich von seiner Angestellten im Gym vorstellt. Kurzerhand erklärt sie
ihm, dass sie erst vor drei Monaten ein Kind bekommen hat. Mit viel Verständnis
für ihre momentane Situation stellt er sie ein
Das Fitnessstudio ist nicht nur mit den modernster Ausstattung,
sondern auch mit frisch zubereitete Vitaminshakes und makelloser Sauberkeit. Die
Hauptfigur findet sich rasch in Arbeitsklima ein, wobei es ihr größtes Problem
ist, die eigene Lüge aufrechtzuerhalten. Als Vick, eine mehrfache Europameisterin
im Bodybuilding beginnt, im Gym zu trainieren, schlägt der anfängliche Neid der
Protagonistin auf deren muskulöses Aussehen bald in Tatkraft um. Endlich hat
sie nach langer Zeit wieder ein Ziel, auf das sie hinarbeiten kann. Parallel
erfährt man mehr darüber, wie erfolgreich sie bei ihrer letzten Tätigkeit
gewesen hin. Doch diesmal kann sie ihren Erfolg auch spüren und für jeden
sichtbar machen.
Die Geschichte greift den heutigen Drang auf, das eigene Äußere
einem in den sozialen Medien propagierten Schönheitsideal anzupassen. Von
Beginn an zeigt sich auch in Ferhats Vorstellungen vom Erscheinungsbild seines
Studios und seiner Angestellten, wie sehr auch er diesem Ideal verhaftet ist.
Verena Keßler schafft abwechslungsreiche Figuren, deren Handeln immer wieder
für amüsante Situationen sorgt. Die Hauptfigur steigert sich allmählich in eine
Selbstoptimierung, die nicht nur die Spannung erzeugende Frage aufwirft, wie
weit sie dabei gehen wird, sondern auch die Gefahr sichtbar macht, die darin
liegt, stets die Beste sein zu wollen.
Verena Keßler schreibt in ihrem Roman „Gym“ über die zahlreichen Erwartungen der heutigen Gesellschaft, die dem Einzelnen nicht nur im Beruf ständig zu optimierende Ziele auferlegt, sondern dabei von jedem verlangt, auch sich selbst als fit, leistungsfähig und attraktiv zu präsentieren. Sehr gerne vergebe ich eine Leseempfehung für diesen bestechend pointierten, aber auch humorvollen Roman.
