Mittwoch, 29. Oktober 2025

Rezension: Der Sohn und das Schneeflöckchen von Vernesa Berbo

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Der Sohn und das Schneeflöckchen
Autorin: Vernesa Berbo
Erscheinungsdatum: 04.09.2025
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband
ISBN: 9783627003319

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Im April 2022 steht in Berlin ein Kriegsverbrecher vor Gericht, dem vorgeworfen wird, während der Belagerung Sarajevo in den 1990er Jahren Gräueltaten begangen zu haben. Suade genannt Dada, ist Mitte vierzig und arbeitet in diesem Prozess, wie schon in vielen zuvor, als Übersetzerin. Vor dreißig Jahren floh sie selbst aus der heutigen Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas. Bis heute weiß sie nicht, ob ihre Eltern und ihre ältere Schwester Dijana den Krieg überlebt haben, weil sie im Streit gegangen ist.

Ihre Gedanken kehren zurück in den März 1992, als Bosnien seine Unabhängigkeit von Jugoslawien erklärte und kurz darauf Sarajevo besetzt wurde. Was damals und in den folgenden Monaten geschah, erzählt Vernesa Berbo in ihrem Debütroman „Der Sohn und das Schneeflöckchen“. Die vom Vater liebevoll vergebenen Spitznamen der Schwestern sind dabei titelgebend.

Die Autorin lebte während des Jugoslawienkriegs selbst eine Zeit lang in Sarajevo und floh, wie Dada, 1993 nach Berlin. Dieser biografische Hintergrund verleiht ihren Schilderungen besondere Authentizität. Sie beschreibt eindringlich die Teilung der Stadt, die jahrelang für ihre Toleranz und religiöse Vielfalt bekannt war. Mit dem Beginn des Krieges ging ein tiefer Riss durch die Gesellschaft. Der Konflikt wurde mit brutaler Härte geführt. Scharfschützen bedrohten das Leben der Bewohner, so dass es gefährlich war, sich im Freien aufzuhalten. Für feinfühligere Leserinnen und Leser können die Beschreibungen belastend sein, ein Hinweis auf Trigger fehlt jedoch im Buch.

Die Erinnerungen von Dada werden in einer auktorialen Erzählperspektive wiedergegeben, während Dijana das Erlebte aus der Ich-Perspektive schildert. Zu Beginn des Krieges sind die Schwestern fünfzehn beziehungsweise achtzehn Jahre alt. Sie genießen ihre Jugend, amüsieren sich mit Freunden und verlieben sich. Doch mit den Kämpfen wächst ihre Wut darüber, nichts zu einem Ende der Gewalt beitragen zu können. Menschen aus ihrem Umfeld stehen ihnen plötzlich als Feinde gegenüber. Beide finden sehr unterschiedliche Wege, sich dem entgegenzustellen. Aber an die ständig drohenden Angriffe gewöhnen sie sich nie.

In ihrem Roman „Der Sohn und das Schneeflöckchen“ zeigt Vernesa Berbo eindrücklich die Realität der Zivilbevölkerung in einer umkämpften Stadt und das auch noch Jahrzehnte später verbleibende Trauma. Sie richtet ihren Fokus besonders auf die Frauen, die versuchen, den Alltag mit ihren Kindern weiterzuführen, jedoch ständig von Gewalt bedroht sind. Diese berührende Geschichte bleibt im Gedächtnis. Ich empfehle sie all jenen, die sich mit dem Krieg und dessen Folgen auseinandersetzen möchten.

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