Rezension von Ingrid Eßer
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Im April 2022 steht in Berlin ein Kriegsverbrecher vor
Gericht, dem vorgeworfen wird, während der Belagerung Sarajevo in den 1990er
Jahren Gräueltaten begangen zu haben. Suade genannt Dada, ist Mitte vierzig und
arbeitet in diesem Prozess, wie schon in vielen zuvor, als Übersetzerin. Vor
dreißig Jahren floh sie selbst aus der heutigen Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas.
Bis heute weiß sie nicht, ob ihre Eltern und ihre ältere Schwester Dijana den
Krieg überlebt haben, weil sie im Streit gegangen ist.
Ihre Gedanken kehren zurück in den März 1992, als Bosnien
seine Unabhängigkeit von Jugoslawien erklärte und kurz darauf Sarajevo besetzt
wurde. Was damals und in den folgenden Monaten geschah, erzählt Vernesa Berbo
in ihrem Debütroman „Der Sohn und das Schneeflöckchen“. Die vom Vater liebevoll
vergebenen Spitznamen der Schwestern sind dabei titelgebend.
Die Autorin lebte während des Jugoslawienkriegs selbst eine
Zeit lang in Sarajevo und floh, wie Dada, 1993 nach Berlin. Dieser biografische
Hintergrund verleiht ihren Schilderungen besondere Authentizität. Sie beschreibt
eindringlich die Teilung der Stadt, die jahrelang für ihre Toleranz und religiöse
Vielfalt bekannt war. Mit dem Beginn des Krieges ging ein tiefer Riss durch die
Gesellschaft. Der Konflikt wurde mit brutaler Härte geführt. Scharfschützen bedrohten
das Leben der Bewohner, so dass es gefährlich war, sich im Freien aufzuhalten.
Für feinfühligere Leserinnen und Leser können die Beschreibungen belastend sein,
ein Hinweis auf Trigger fehlt jedoch im Buch.
Die Erinnerungen von Dada werden in einer auktorialen
Erzählperspektive wiedergegeben, während Dijana das Erlebte aus der
Ich-Perspektive schildert. Zu Beginn des Krieges sind die Schwestern fünfzehn
beziehungsweise achtzehn Jahre alt. Sie genießen ihre Jugend, amüsieren sich
mit Freunden und verlieben sich. Doch mit den Kämpfen wächst ihre Wut darüber, nichts
zu einem Ende der Gewalt beitragen zu können. Menschen aus ihrem Umfeld stehen ihnen
plötzlich als Feinde gegenüber. Beide finden sehr unterschiedliche Wege, sich
dem entgegenzustellen. Aber an die ständig drohenden Angriffe gewöhnen sie sich
nie.
In ihrem Roman „Der Sohn und das Schneeflöckchen“ zeigt Vernesa Berbo eindrücklich die Realität der Zivilbevölkerung in einer umkämpften Stadt und das auch noch Jahrzehnte später verbleibende Trauma. Sie richtet ihren Fokus besonders auf die Frauen, die versuchen, den Alltag mit ihren Kindern weiterzuführen, jedoch ständig von Gewalt bedroht sind. Diese berührende Geschichte bleibt im Gedächtnis. Ich empfehle sie all jenen, die sich mit dem Krieg und dessen Folgen auseinandersetzen möchten.
