Dienstag, 9. September 2025

Rezension: Die Verlorene von Miriam Georg

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Die Verlorene
Autorin: Miriam Georg
Erscheinungsdatum: 27.08.2025
Verlag: Fischer (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband
ISBN: 9783758500309
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In ihrem Roman „Die Verlorene“ schreibt Miriam Georg zum ersten Mal auf zwei Handlungsebenen, von denen eine in der Gegenwart verortet ist. In ihr stürzt die inzwischen dreiundneunzigjährige Änne Frankfurter Wohnung in Frankfurt von einem Hocker und fällt ins Koma, aus dem sie nicht mehr aufwacht.

Das Verhältnis zu ihrer fünfundsiebzigjährigen Tochter Ellen ist seit jeher belastet. Mit ihr floh sie einst in den Nachkriegstagen aus Schlesien in den Westen. Ihren Vater hat Ellen nie kennengelernt. Ihre Tochter Laura, 37 Jahre alt, stammt aus einer kurzen Ehe. Weder mit Ellen noch mit Laura hat Änne je über ihre Eltern und Geschwister gesprochen. Nach Schlesien ist sie nie zurückgekehrt. Als sie nun bewusstlos im Krankenhaus liegt, bleiben viele Fragen offen, die Tochter und Enkelin ihr gerne gestellt hätten. Beide sind verwundert, als die behandelnde Ärztin ihnen eröffnet, dass Änne nie an Epilepsie gelitten habe, wie sie immer glaubten.

Vor allem Laura wird sich der Brüche in der Familiengeschichte bewusst. Beim Aufräumen in der Wohnung ihrer Großmutter entdeckt sie ein Foto, auf dem zwei junge Frauen mit einem Kleinkind abgebildet sind. Wer darauf abgebildet ist, will sie unbedingt herausfinden und macht sich daher auf den Weg nach Polen, um nach Spuren ihrer Herkunft zu suchen.

Zu Beginn fokussiert die Geschichte noch auf der Gegenwart, doch mit Lauras Nachforschungen nehmen die Kapitel, die in den 1940er Jahren spielen, zunehmend breiteren Raum ein. Ännes Vater führt einen Gutshof. Sie wächst mit einer Schwester und zwei Brüdern auf. Der Zweite Weltkrieg verändert das Leben der Familie grundlegend. Die Söhne werden zum Kriegsdienst eingezogen und dem Hof FremdarbeiterInnen zugewiesen. Als Änne erkrankt, versuchen ihre Eltern dies zu verbergen, denn für eine Krankheit ohne Aussicht auf Heilung gibt es im Dritten Reich keine guten Lösungen.

Als Lesende folgt man Lauras Spurensuche und nähert sich Stück für Stück der jungen Änne. Sie wächst in einer sie beschützenden Familie auf, die zunehmend unter politischen Repressionen leidet. Auf der Suche nach dem Vater von Ellen und dem Grund für Ännes Flucht in den Westen entfaltet sich eine Geschichte mit einigen unerwarteter Wendungen, die für einen regelrechten Lesesog entwickeln. Miriam Georg gelingt es mit Feingefühl die Beweggründe ihrer Figuren für ihr Handeln offenzulegen. Deutlich wird dabei auch, welchen Einschränkungen Frauen in den 1940er Jahren ausgesetzt waren, wenn sie selbstbestimmt leben wollten.

Gute Recherche und eine Verbindung zur eigenen Familiengeschichte der Autorin verleihen dem Roman „Die Verlorene“ von Miriam Georg Authentizität und Nähe zu realen Ereignissen. Familiengeheimnisse sorgen für eine unterschwellige Spannung. Lebendige Figuren, eine wunderschöne Kulisse in Schlesien und starke Gefühle machen die Lektüre eindringlich und hallen nach. Sehr gerne vergebe ich eine uneingeschränkte Leseempfehlung für das Buch.

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