In ihrem Roman „Die Verlorene“ schreibt Miriam Georg zum
ersten Mal auf zwei Handlungsebenen, von denen eine in der Gegenwart verortet
ist. In ihr stürzt die inzwischen dreiundneunzigjährige Änne Frankfurter
Wohnung in Frankfurt von einem Hocker und fällt ins Koma, aus dem sie nicht
mehr aufwacht.
Das Verhältnis zu ihrer fünfundsiebzigjährigen Tochter Ellen
ist seit jeher belastet. Mit ihr floh sie einst in den Nachkriegstagen aus
Schlesien in den Westen. Ihren Vater hat Ellen nie kennengelernt. Ihre Tochter
Laura, 37 Jahre alt, stammt aus einer kurzen Ehe. Weder mit Ellen noch mit
Laura hat Änne je über ihre Eltern und Geschwister gesprochen. Nach Schlesien
ist sie nie zurückgekehrt. Als sie nun bewusstlos im Krankenhaus liegt, bleiben
viele Fragen offen, die Tochter und Enkelin ihr gerne gestellt hätten. Beide sind
verwundert, als die behandelnde Ärztin ihnen eröffnet, dass Änne nie an
Epilepsie gelitten habe, wie sie immer glaubten.
Vor allem Laura wird sich der Brüche in der
Familiengeschichte bewusst. Beim Aufräumen in der Wohnung ihrer Großmutter
entdeckt sie ein Foto, auf dem zwei junge Frauen mit einem Kleinkind abgebildet
sind. Wer darauf abgebildet ist, will sie unbedingt herausfinden und macht sich
daher auf den Weg nach Polen, um nach Spuren ihrer Herkunft zu suchen.
Zu Beginn fokussiert die Geschichte noch auf der Gegenwart,
doch mit Lauras Nachforschungen nehmen die Kapitel, die in den 1940er Jahren
spielen, zunehmend breiteren Raum ein. Ännes Vater führt einen Gutshof. Sie
wächst mit einer Schwester und zwei Brüdern auf. Der Zweite Weltkrieg verändert
das Leben der Familie grundlegend. Die Söhne werden zum Kriegsdienst eingezogen
und dem Hof FremdarbeiterInnen zugewiesen. Als Änne erkrankt, versuchen ihre
Eltern dies zu verbergen, denn für eine Krankheit ohne Aussicht auf Heilung gibt
es im Dritten Reich keine guten Lösungen.
Als Lesende folgt man Lauras Spurensuche und nähert sich
Stück für Stück der jungen Änne. Sie wächst in einer sie beschützenden Familie
auf, die zunehmend unter politischen Repressionen leidet. Auf der Suche nach
dem Vater von Ellen und dem Grund für Ännes Flucht in den Westen entfaltet sich
eine Geschichte mit einigen unerwarteter Wendungen, die für einen regelrechten Lesesog
entwickeln. Miriam Georg gelingt es mit Feingefühl die Beweggründe ihrer
Figuren für ihr Handeln offenzulegen. Deutlich wird dabei auch, welchen Einschränkungen
Frauen in den 1940er Jahren ausgesetzt waren, wenn sie selbstbestimmt leben
wollten.
Gute Recherche und eine Verbindung zur eigenen Familiengeschichte der Autorin verleihen dem Roman „Die Verlorene“ von Miriam Georg Authentizität und Nähe zu realen Ereignissen. Familiengeheimnisse sorgen für eine unterschwellige Spannung. Lebendige Figuren, eine wunderschöne Kulisse in Schlesien und starke Gefühle machen die Lektüre eindringlich und hallen nach. Sehr gerne vergebe ich eine uneingeschränkte Leseempfehlung für das Buch.