Rezension von Ingrid Eßer
Im Roman „Goldstrand“ von Katerina Poladjan liegt der etwa
sechzig Jahre alte Filmregisseur Edi in Rom auf der Couch seiner „Dottoressa“
genannten Psychotherapeutin. Die beiden ahben bereits zahlreiche Sitzungen hinter
sich. Die Inhalte der mehr als dreißig bereits abgehaltenen Stunden bleiben im
Dunkeln. Nun erinnert Edi sich daran, wie seine Eltern sich kennengelernt
haben.
Er erzählt, wie sein Großvater zu Beginn der 1920er-Jahre mit
seiner Tochter Vera und seinem Sohn Felix wegen der Hungersnot in der Ukraine aus
Odessa nach Konstantinopel flieht. Auf der Überfahrt verschwindet Vera spurlos.
Niemand hat gesehen, ob sie über Bord ging. Es beginnt eine jahrelange, von
Hoffnung und Verzweiflung geprägte Suche nach ihr.
Später erinnert Eli daran, wie seine italienische Mutter im
bulgarischen Warna den Architekten Felix kennenlernt und dieser sein Vater
wurde. Mit dieser Begegnung ist der Bau des ersten Hotels am sogenannten
Goldstrand verbunden, der später ein internationaler Ferienort werden sollte. Hier
bestehen keine politisch bedingten Einschränkungen für einen Besuch. Das Trauma
von Veras Verschwindens prägt die Familie bis in die Gegenwart. Eli benennt
nicht nur seine Tochter nach ihr, sondern widmet der Geschichte seiner
Vorfahren auch Filme.
Nach und nach wird deutlich, dass Eli ein unzuverlässiger
Erzähler ist, was auch die Dottoressa bemerkt. Er lässt Erinnerungen, Fantasien
und Zukunftsvorstellungen ineinanderfließen, sodass der Lesende unsicher wird,
was tatsächlich geschehen ist.
Eli erscheint zunächst als ein familienverbundener Mensch,
doch seine gescheiterte Ehe, sein distanziertes Verhältnis zur Tochter und ein erschreckender
Gedanke, den er etwa in der Mitte des Romans hat, zeichnen ein komplexeres
Bild. Im weiteren Verlauf bleiben die Therapiegespräche nicht mehr im
vertrauten Dialog, wodurch Edi die Aufmerksamkeit der Dottoressa zu entgleiten
droht.
Das Ende der Geschichte bringt eine überraschende Wendung. Obwohl
die Handlung stark auf die Figuren fokussiert ist, treten auch die gesellschaftlichen
Umbrüche an den Handlungsorten deutlich hervor. Die Fabulierkunst des
Filmregisseurs ist stellenweise amüsant, auch wenn einige Geschehnisse tragisch
sind.
„Goldstrand“ von Katerina Poladjan ist ein Roman zwischen Realität und Imagination des Protagonisten. Er ringt mit einem generationenübergreifenden Trauma und sucht auf der Couch seiner Therapeutin nach einer Möglichkeit, es zu verarbeiten. Mit seiner Fantasie kann er sich eigene Wirklichkeiten erschaffen. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung für diese erfinderische Erzählung.