Sonntag, 17. September 2023

Rezension: Tage im warmen Licht von Kristina Pfister


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Tage im warmen Licht
Autorin: Kristina Pfister
Broschiert: 384 Seiten
Erschienen am 30. August 2023
Verlag: FISCHER Taschenbuch

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Eigenbedarfskündigung - dieses Wort bedeutet für Maria und ihre Tochter Linnea das Ende ihrer Zeit in einer Münchener Dreizimmerwohnung. Da es Maria unmöglich erscheint, in dieser Zeit eine vergleichbare und bezahlbare Wohnung in der Stadt aufzutreiben, trifft sie schweren Herzens eine Entscheidung: Sie und Linnea werden vorübergehend in das Haus von Oma Hanne ziehen, die es ihr nach ihrem Tod im vorherigen Jahr vererbt hat. Nach über zwanzig Jahren kehrt Marie in das Provinznest zurück, mit dem sie zahlreiche schöne Erinnerungen und eine schmerzhafte Flucht verbindet. Die Begegnungen mit den Personen ihrer Vergangenheit lassen nicht lang auf sich warten. War es die richtige Entscheidung, zurückzukehren?

Der Roman beginnt mit einer bittersüßen Erinnerung an Marias Kindheit: In dieser sitzt sie nach der Beerdigung ihres Opas mit ihrer Oma Hanne und ihrem besten Freund Henning im Garten der Nachbarin und isst kalten Pudding direkt aus der Schüssel. An diesem Tag kommt Hanne die Idee, sich einen Hund zu kaufen. Zwanzig Jahre später ist Hanne seit über einem Jahr tot und ihr Marie kümmert sich nicht nur um ihre Teenager-Tochter Linnea, sondern auch um Hannes Hund Bootsmann.

Nach wenigen Seiten machen sich Maria und Linnea mit Bootsmann auf den Weg hinaus aus der Stadt, um vorübergehend in Hannes altes Haus zu ziehen. Martha, die Nachbarin und gute Freundin von Hanne, ist gleich zur Stelle, um den beiden zu helfen. Ihr Angebot an Maria, einem Frauenclub beizutreten, der sich regelmäßig bei ihr versammelt, lehnt sie jedoch skeptisch ab. Weitere Begegnungen mit Menschen aus ihrer Vergangenheit lassen nicht lang auf sich warten. Bald holen die Erinnerungen an die Ereignisse von damals, die dafür gesorgt haben, dass Maria nach München geflüchtet und bis heute nicht zurückgekehrt ist, sie wieder ein.

Als Leserin hatte ich schnell eine grobe Idee, was damals passiert ist, auch wenn die Details erst nach und nach als Erinnerungsfetzen preisgegeben werden. Marias alte Freunde reagieren sehr unterschiedlich auf ihre Rückkehr, die meisten wissen nicht einmal, warum sie damals gegangen ist. Ich erlebte eine Protagonistin, die mit sich ringt, ob sie Nähe zulassen soll oder lieber weiter auf Distanz bleibt, um nicht verletzt zu werden. Es setzt ein Heilungsprozess ein, in dem es viele kleine Schritte in die richtige Richtung, aber auch Rückschritte gibt und auf dem ich Maria gerne begleitet habe. Gestört hat mich lediglich, dass entscheidende Gespräche immer wieder aufgeschoben wurden und sich die Handlung dadurch etwas in die Länge zog.

Neben Marias eigenem Weg erlebte ich ebenfalls, wie ihre Tochter Linnea in der neuen Umgebung aufblüht. In München hatte sie mit Schulangst zu kämpfen und findet nun ein Umfeld, das sie bestärkt und in dem sie sich sicher fühlt. Der Roman legt seinen Fokus auf Freundschaft und Zusammenhalt, um sich gegenseitig zu stärken, zu wachsen und die Schatten der Vergangenheit hinter sich zu lassen. Eine einfühlsame und berührende Lektüre, perfekt für einen sonnigen Herbsttag.

Samstag, 16. September 2023

Rezension: Kontur eines Lebens von Jaap Robbens

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Kontur eines Lebens
Autor: Jaap Robben
Übersetzerin aus dem Niederländischen: Birgit Erdmann
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband
ISBN: 9783832168186
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Jaap Robben erzählt in seinem Roman „Kontur eines Lebens“ die Geschichte von Frieda Tendeloo, die inzwischen über achtzig Jahre alt und gerade in ein Pflegeheim im niederländischen Nimwegen gezogen ist, in dessen Nähe sie ihr ganzes Leben verbracht hat. Eigentlich hätte es nicht dazu kommen dürfen, denn sie war diejenige mit den zunehmend schlimmer werdenden Altersbeschwerden, aber dann starb unerwartet ihr Ehemann Louis, der sich immer um ihr tägliches Wohl gekümmert hat.

Im Heim hat sie viel Zeit, ihren Gedanken nachzuhängen. Vielleicht denkt sie an eine Liebschaft in den frühen 1960er Jahren und der daraus resultierenden Schwangerschaft, weil ihr Sohn bald zum ersten Mal Vater wird. Davon wusste weder Louis noch ihr Sohn. Mit und mit erfuhr ich als Leserin zunächst von ihrem Freund Otto, von dem sie bald wusste, dass er verheiratet war. Beide treffen Vorkehrungen, doch dann passiert, was nie hätte eintreten dürfen, denn sie wird schwanger. Was dann geschieht ist ein wahres Spießrutenlaufen. Im katholischen Elternhaus erfährt sie keine Unterstützung. Stattdessen werden ihr Ratschläge erteilt, wie mit dem zu erwartenden Kind zu verfahren ist. Niemals gesteht man ihr dabei zu, es selbst aufzuziehen. Doch sie hält wider aller Umstände daran fest, sich selbst um ihr Kind kümmern zu wollen. Sie sinkt immer tiefer in ihrer Würde und ihre Verzweiflung nimmt zu.

Endlich findet Frieda den Mut, über diese Phase in ihrem Leben zu sprechen. Es beginnt mit der Suche nach ihrem früheren Liebsten, wodurch sich lange zurückgehaltene Gefühle einen Weg bei ihr bahnen. Als Leserin machte Frieda auf mich einen resoluten Eindruck. Manchmal fällt ihre Reaktion meiner Meinung nach recht schroff aus, was sie nicht unbedingt zur Sympathieträgerin macht. Selbst ihr Sohn fühlt sich von ihr undankbar behandelt. Erst nachdem sie ihr jahrelanges Schweigen bricht, nähern sie sich wieder einander an. Bis beinahe zum Ende des Buchs versucht Frieda herauszufinden, was mit dem Kind nach der Geburt geschehen ist, was ich als Lesende auch unbedingt wissen wollte.

Die Erzählung ist mitreißend und feinsinnig erzählt. Sie beschreibt ein historisches Kapitel des Umgangs mit ledigen Müttern, das aus heutiger Sicht kaum zu glauben ist, leider aber zur Realität gehört. Sehr gerne vergebe ich eine Leseempfehlung für diesen noch lange nachhallenden Roman. 


Dienstag, 12. September 2023

Rezension: Nincshof von Johanna Sebauer

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Nincshof
Autorin: Johanna Sebauer
Erscheinungsdatum: 18.07.2023
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband
ISBN: 9783832168209

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Im Burgenland, direkt an der Grenze zu Ungarn, liegt das fiktive Örtchen Nincshof. Wohlüberlegt hat die Autorin Johanna Sebauer den Haupthandlungsort ihrer Geschichte so genannt, denn „nincs“ bedeutet im ungarischen „es gibt keins“.  Die Verschwörung dreier Bewohner will genau das erreichen, nämlich nichts Geringeres, als dass das Dorf aus dem Gedächtnis der Welt verschwindet. Alten Legenden nach war das früher so und brachte den Vorteil, dass sie staatlichen Verpflichtungen wie zum Beispiel dem Zahlen von Steuern und der Wehrpflicht entgingen. Sie möchten wieder frei in allen ihren Entscheidungen werden. Die große Herausforderung stellen die heutigen sozialen Medien dar und ich war von Beginn an nicht nur gespannt, wie sie ihr Ziel erreichen wollen, sondern natürlich auch, ob sie erfolgreich sind.

Als erstes werben die Oblivisten, wie die Verschwörer sich nennen, die bereits über achtzigjährige Erna für ihr Vorhaben an. Nebenher hat deren Mitwirken den Effekt, dass sie einen Versammlungsort in ihrer Küche haben und sich gerne von ihr mit leckeren Snacks versorgen lassen. Der Zuzug einer Familie aus Wien trübt ihre Erfolge, denn mit deren Plan, einer Irrziegenzucht Touristen anzulocken, stehen sie konträr dazu, das Dorf dem Vergessen anheim zu geben.

Der Roman ist eine herrliche Komödie, die mit vielen eigenartigen Ideen aufwartet zu denen Ernas nächtliche Besuche im Swimmingpool der Nachbarn gehören, Pusztafeigen und deren Wirkung sowie jede Menge Einfälle und deren Umsetzung durch die Oblivisten. Die Figuren sind liebevoll gestaltet, voller Eigenleben und ausgestattet mit zahlreichen Macken. Zwischen der amüsanten Geschichte schwingt das Thema des Heischens nach Aufmerksamkeit. Viele versuchen in der Öffentlichkeit auf sich aufmerksam zu machen und inszenieren sich entsprechend, wobei sie andere ungewollt ins Rampenlicht rücken und ihre Entscheidungsfreiheit dabei ein Stück einschränken. Johanna Sebauer weist dadurch darauf hin, dass dies eins der Dinge des Zuviels ist, die neben zu viel Arbeit, zu viel Essen und zu wenig Zeit an unserer Gesundheit knabbern.

Wahrheit, Legende und Lügen sind in Nincshof eng beieinander angesiedelt und die Erzählungen über die Vergangenheit und die Ereignisse der Gegenwart lassen sich nicht einfach zuordnen, was sehr zum Vergnügen des Lesenden beiträgt. Ich habe das Buch sehr genossen und vergebe gerne eine Leseempfehlung.


Montag, 11. September 2023

Rezension: Fräulein vom Amt - Spiel auf Leben und Tod von Charlotte Blum

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Fräulein vom Amt - Spiel auf Leben und Tod
Autoren (Pseudonym): Charlotte Blum
Erscheinungsdatum: 30.08.2023
rezensierte Buchausgabe: Klappenbroschur
ISBN: 09783651025073
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Im Jahr 1925 erstickt unweit der Spielstätte des Internationalen Schachturniers in Baden-Baden die noch jugendliche Wäscherin Gertrude in einer Wäschetrommel der Dampfwaschanstalt. Im dritten Band der Reihe über das Fräulein vom Amt mit dem Untertitel „Spiel auf Leben und Tod“ von Charlotte Blum bemüht sich Alma Täuber, die titelgebende Protagonistin, um die Aufklärung der Umstände unter denen die Angestellte der Wäscherei ums Leben kam. Eine Kollegin hat sie um ihre Mithilfe gebeten, denn die Verstorbene ist eine Cousine und Mitbewohnerin von ihr.

Alma zögert zwar zu helfen, aber es ärgert sie, dass die Kollegen von Kriminalkommissar Ludwig Schiller, mit dem sie bereits seit längerem fest befreundet ist, den Tod der Wäscherin als Selbstmord oder Unfall zu den Akten heften. Schnell erkennt sie Ungereimtheiten und überlegt gemeinsam mit ihrer Freundin und Mitbewohnerin Emmi und ihrem Cousin Walter, der beruflich in der Stadt ist, wie sie an nähere Informationen über die Verstorbene und deren privates Tun und Lassen gelangen kann.

Am Schachturnier hat sie zunächst wenig Interesse, begleitet ihren am Spiel interessierten Freund aber zu einer Veranstaltung und erfreut sich an der Atmosphäre der Veranstaltung. Später erfährt sie davon, dass während der Spiele Langfinger unterwegs sind. Die Ermittlungen kommen nur schleppend voran. Alma weiß, dass es weit hergeholt ist zu überlegen, ob der Tod von Gertrude in Verbindung mit den Diebstählen steht, bis sie in eine für ihr eigenes Leben bedrohliche Situation gerät.

Erneut verbindet das Autorinnenduo, das unter dem Pseudonym Charlotte Blum schreibt, einen fiktiven Kriminalfall mit historischen Fakten, zu denen das Schachturnier gehört, das von der Stadtverwaltung der Kur- und Bäderstadt damals veranstaltet wurde. Es gelingt ihnen, durch zahlreiche Beschreibungen der Umgebung, kulturellen Begebenheiten und politischen Hintergründen ein vorstellbares Bild der damaligen Zeit entstehen zu lassen. In einem Glossar am Ende des Buchs erhält man kurze Erläuterungen zu damals wichtigen Persönlichkeiten, zu Literatur, Musik und verschiedenen zeitgeschichtlichen Begrifflichkeiten.

Die Entwicklungen im Fernmeldewesen in Form der technischen Neuerung des Selbstwählapparats bringen Alma zum Grübeln über ihre berufliche Zukunft. Mit den neun Kolleginnen ihrer Schicht kommt sie gut zurecht. Man hilft einander oder lästert gemeinsam. Ihren Heiratswunsch hat die Protagonistin bisher aufgeschogen, weil sie dann ihre Arbeitsstelle aufgeben müsste. Täglich wartet sie darauf, dass es Entlassungen geben wird.

Bei den Ermittlungen sorgen die Verbindungen zu Bekanntschaften der lebenslustigen Emmi für AnsprechpartnerInnen, die Alma dazu nutzt, weiterführende Informationen zu erhalten. Aufgrund ihrer vergangenen Erfahrungen machte sie diesmal auf mich einen forscheren Eindruck, wenn es darum ging, sich unbekannten Situationen auszusetzen wie beispielsweise dem Besuch eines als verwerflich angesehenen Lokals.

Mit dem dritten Band „Spiel auf Leben und Tod“ der Serie um Alma Täuber, dem „Fräulein von Amt“ knüpft Charlotte Blum nahtlos an die erfolgreichen ersten beiden Bände an. Der zu ermittelnde Fall ist ansprechend gewählt und ungewöhnlich, so dass er Anreiz zum Miträtseln bietet. Die Verknüpfung mit dem tatsächlich stattgefundenen Schachturnier des Jahrs 1925 in Baden-Baden ist geschickt gesetzt und in der Umsetzung gelungen. Das Buch ist ein Must-Read für alle Fans der Serie und sehr gerne empfehle ich das Buch an alle Freunde historischer Kriminalromane weiter. 


Dienstag, 5. September 2023

Rezension: Paradise Garden - Elena Fischer


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Paradise Garden
Autorin: Elena Fischer
Hardcover: 352 Seiten
Erschienen am 23. August 2023
Verlag: Diogenes

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Billie ist 14 Jahre alt und lebt gemeinsam mit ihrer Mutter Marika in einer Hochhaussiedlung. Das Geld ist immer knapp, doch ein kleiner Gewinn im Radio lässt einen Traum der beiden in greifbare Nähe rücken: Einmal einen Urlaub am Meer machen! Am Tag vor der Abfahrt steht jedoch plötzlich die Großmutter aus Ungarn vor der Tür, die an einer mysteriösen Krankheit leidet und diverse Ärzte aufsuchen muss. Kurz darauf ist ihre Mutter tot, und Billie muss sich fragen, wo ihr Leben weitergehen soll. Im alten Nissan ihrer Mutter fährt sie los, um die Antworten zu suchen, die Marika ihr nie gegeben hat.

Schon im ersten Satz des Buches eröffnet die Ich-Erzählerin Billie den Leser:innen, dass ihre Mutter verstorben ist. Der Ausgangspunkt des Romans ist die Beerdigung, von der aus Billie sich an den Anfang zurückerinnert. Dieser ist aus ihrer Sicht der Radiogewinn, mit dem sie und ihre Mutter Marika ans Meer fahren wollten. In den ersten Kapiteln erfuhr ich mehr über die enge Mutter-Tochter-Beziehung der beiden. Marika hat ihrer Tochter eine empathische Grundhaltung vermittelt, bestärkt sie und lässt ihr viele Freiheiten. Billie bringt ihrer Mutter bedingungslose Liebe entgegen, auch wenn sie weiß, dass ihr Leben nicht perfekt ist und sich von dem ihrer besten Freundin Lea unterscheidet, die in einem Einfamilienhaus wohnt und mit ihren Eltern ständig in den Urlaub fliegt.

Der Tod von Marika kommt trotz der frühen Ankündigung überraschend und reißt eine riesige Lücke in Billies Leben. Ihre Reaktion fand ich authentisch und ich konnte mich gut in sie hineinversetzen. Getrieben von dem Wunsch, endlich die Identität ihres Vaters zu lüften, begibt sie sich mit den wenigen Informationen, die sie hat, auf einen Roadtrip. Ich mochte den Erzählsound sehr und trotz der schwierigen Situation schafft es Billie durch die Art und Weise, mit der sie die Erlebnisse wiedergibt, immer wieder eine gewisse Leichtigkeit in die Handlung zu bringen. Dabei musste ich mir jedoch die Frage stellen, wie zuverlässig Billie als Ich-Erzählerin ist. Ist alles wirklich so passiert ist oder hat Billie bewusst oder unbewusst in der Wiedergabe des Erlebten einige Dinge verändert?

Für mich ist "Paradise Garden" ein bittersüßer Coming of Age Roman. Er legt den Fokus auf die Themen Zusammenhalt, Verlust, Identitätssuche und Familie - die, in die man hineingeboren wird und die, welche man selbst wählt. Ein wirklich starker Debütroman, dem ich noch viele Leser:innen wünsche!

Freitag, 1. September 2023

Rezension: Tausend und ein Morgen von Ilija Trojanow

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Tausend und ein Morgen
Autor: Ilija Trojanow
Erscheinungsdatum: 30.08.2023
Verlag: S. Fischer (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband
ISBN. 9783103973396
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In der utopischen Welt ohne Kriege, in der Ilija Trojanows Roman „Tausend und ein Morgen“ spielt, hat die Menschheit es geschafft, einige ihrer heute größten Probleme zu lösen. Der Klimawandel, die Armut und der Hunger gehören dazu. Die Protagonistin Cya beendet gerade ihre Ausbildung zur Chronautin, einer Berufsgruppe, die in die Vergangenheit zu Zeitpunkten reist, von denen sie sich erhoffen, dass sie dort eine kleine Änderung vornehmen können, die dann zu mehr Friedlichkeit führt. Eine Einmischung in den Handlungsablauf ist nicht einfach und scheitert öfters als erwünscht. Folgen durch die Änderung für ihre eigene Welt befürchten die Chronautin nicht, weil sich das Universum sowieso unentwegt verzweigt. Darauf nimmt der Titel Bezug, der auf die vielen Möglichkeiten hinweisen möchte, die der Menschheit zur Verfügung stehen, ein Leben zu gestalten und dabei sein Potential einzusetzen.

Bei der Zeitreise ist die Begleitung durch eine künstliche Intelligenz sinnvoll. Ilija Trojanow nutzt sie dazu, um Cya Erklärungshilfen in einer ihr weitgehend unbekannten Umgebung zu geben und dadurch auch dem Lesenden. Die KI entwickelt sich aufgrund des zugewonnenen Wissens weiter, was aber zu der Gefahr führt, dass ihr Algorithmus zusammenbricht. Auch ein Buddy steht jedem Chronistin zur Seite. Außerdem ist die Reisezeit beschränkt. Dabei hat Cya anfangs das Problem, sich der Situation von Anwesenden im Damalsdort, wie sie die Vergangenheit nennen, unbemerkt zu entziehen, um in ihre Gegenwart zurückzukehren. Obwohl die Chronistin bei ihren Reisen über körperliches Empfinden und Gefühle verfügt, stirbt sie bei einem dabei eintretenden Tod nicht in ihrer utopischen Welt. Durch die Erfahrungen können sich die Eindrücke verändern. Bisher waren Chronistin nicht so erfolgreich wie gewünscht, aber sie machen Fortschritte.

Ihre Raumzeitreisen führen Cya ins 18. Jahrhundert zu Piraten in der Karibik, in unserer Gegenwart nach Indien zu religiösen Fanatikern, ins Jahr 1984 zu den Olympischen Spielen und schließlich in die Zeit der russischen Revolution. Derweil kommt es auch in der utopischen Gegenwart zu Konflikten. Es steht die Frage im Raum, was passiert, wenn Jemand durch die Einwirkung eines anderen stirbt. Ebenso zeigt der Autorbeispielhaft einen möglichen Umgang der zukünftigen Gesellschaft mit einem Andersdenkenden.

Ilija Trojanow spielt in seinem Buch mit der Präsentation des Geschriebenen. Allgemeine Handlungsabläufe sind im Blocksatz gedruckt. Die reichlichen Dialoge sind linksbündig gesetzt, wenn sie in der Zukunft geführt werden, solche im Damalsdort sind rechtsbündig und die Hinweise der Künstlichen Intelligenz immer kursiv. Übergänge werden mit einer fettgedruckten Phrase angedeutet. Ich gebe zu, dass der Schriftsatz auf mich auf den ersten Blick einen ansprechenden Eindruck machte. Zu Beginn des Lesens war ich kurz irritiert, aber eine Orientierung mit Zuordnung gelang mit nach wenigen Seiten.

Der Autor taucht in die verschiedenen Gesellschaften der Vergangenheit tief ein. Cya betritt bei jeder Reise eine unbekannte Situation. Durch ihre Beschreibungen konnte ich mich als Leserin gut einfinden. Die Dialoge kommen in der Regel ohne zusätzliche Ergänzungen von Bewegung und Lautmalerei aus. Neue Figuren stellen sich dabei meist selbst vor und erzählen aus ihrem Leben. Ilija Trojanow lässt die Personen mit unerschöpflichen Aspekten von einer Welt voller Missständen, Gewalt und Machtansprüchen erzählen. Die Freude an der Formulierung ist den geschilderten Geschehnissen anzumerken. Für die Protagonistin ist es nicht einfach, als friedfertiger Mensch in einer raubeinigen oder oft barbarischen Umgebung authentisch zu erscheinen und nicht aufzufallen. Auch wenn ihr dabei die künstliche Intelligenz zur Seite steht, muss sie immer bedenken, dass diese nur ihre Aufgaben zu erfüllen hat und ihr nicht gefühlsmäßig nahe rücken darf. Jede Zeit, in die der Autor den Lesenden eintauchen lässt, hat Themen, die er mühelos am Rande ausformuliert, darüber sinniert und dadurch zum Nachdenken anregt.

Im Roman „Tausend und ein Morgen“ führt Ilija Trojanow uns vor Augen, dass unsere Welt von uns gemacht wird. Jede unserer Entscheidungen läuft auf weitreichende Folgen hinaus, nicht nur für uns, sondern auch für andere. Allerdings moralisiert er nicht, sondern stößt beim Lesenden manchen Gedankengang an mit der Frage, was denn wäre, wenn anders entschieden und gehandelt würde. Ich bin der Chronistin gerne auf ihren Wegen gefolgt. Das Buch ist für Lesende geeignet, die fantastische Ausflüge und grenzüberschreitendes Schreiben mögen.

Donnerstag, 31. August 2023

Rezension: Marschlande von Jarka Kubsova

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Marschlande
Autorin: Jarka Kubsova
Erscheinungsdatum: 30.08.2023
Verlag: S. Fischer (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783103974966

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Zwei Frauen und 500 Jahre, die sie voneinander trennen und dennoch findet Jarka Kubsova in ihrem Roman „Marschlande“ verbindende Elemente in deren Suche nach einem eigenständigen Leben. Abelke Bleken lebte im 16. Jahrhundert und ist eine historisch verbürgte Person, die die Autorin mit Leben füllt. Die im Südosten Hamburgs ansässige Britta Stoever ist dagegen eine rein fiktive Figur, in deren Charakter sich manche Leserin sicher wiederfinden wird. Der Alltag der beiden ist sehr verschieden in eben jener, als Marschlande bezeichneten Gegend, stellt aber die zwei Frauen in ihrer jeweiligen Zeit vor besondere Herausforderungen.

Abelke bewirtschaftet den großen geerbten Hufnerhof ganz allein, nachdem ihr Personal nach einem Deichbruch sie verlassen hat, um andernorts mehr zu verdienen. Sie steht in der Verantwortung, die Schäden am Deich in kurzer Zeit ausbessern zu müssen. Ihre Hoffnung auf Hilfe schwindet immer mehr und sie erkennt, dass ihre Rolle als Frau damit in Zusammenhang steht, denn die meisten ihrer Zeitgenossen und -genossinnen sehen das weibliche Geschlecht als Versorgerin von Küche und Kindern. Aber Abelke ist ohne Partner*in.

Auch Brittas Mann sieht Jahrhunderte später seine Frau am liebsten am Herd und in der Umsorgung der Tochter und des Sohns. Er selbst ist im Beruf erheblich eingespannt und stolz darauf, mit seinem Gehalt den kürzlichen Hauskauf finanzieren zu können. Britta erhält in ihrem Halbtagsjob, dessen Anforderungen hinter ihren Kenntnissen zurückbleiben, kaum Anerkennung.

Bei beiden Frauen nährt sich die Wut darüber, dass sie nicht gleichberechtigt behandelt werden. Abelke fühlt sich im Vergleich mit anderen Hufbauern zurückgesetzt und Britta spürt das Ungleichgewicht, wenn es um die Aufgabenverteilung in ihrer Ehe geht. Dabei nutzt auch Reden nichts, denn diejenigen, die ihren Vorrang erworben haben und damit auch eigene Vorteile, werden von ihrer Position kaum weichen. Wenn sie aus ihrem Umfeld heraus unterstützt werden, kann es sein, dass sie gleicher als gleich werden; Orwell lässt grüßen. Währenddessen staut sich bei den Frauen der Frust an.

Britta beschäftigt sich mit dem Schicksal Abelkes, nach der in Hamburg eine Ringstraße benannt ist, und wird sich dabei umso mehr ihrer eigenen Probleme bewusst. Anders als früher findet sie heute offene Ohren für ihre Sorgen und vermag es, Konsequenzen zu ziehen.

Jarka Kubsova bindet die von ihr geschilderten Lebensabschnitte der Frauen in eine Umgebung ein, die häufiger extremen Wetterkapriolen ausgesetzt ist. Stürme und Überschwemmungen fordern den Bewirtschaftern der Böden einiges ab. Dank der schnörkellosen Beschreibungen konnte ich mir die Gegend beim Lesen gut vorstellen und empfand sowohl die Härte der damaligen Bestellungsarbeiten wie auch die Schönheit der malerischen Landschaft, wie sie sich bis heute darstellt.

In ihrem Roman „Marschlande“ beschreibt Jarka Kubsova einfühlsam zwei Frauenleben, die durch viele Jahrhunderte getrennt sind und in denen sich dennoch Gemeinsamkeiten in ihrem Streben nach Selbstbestimmung finden. Wie in ihrem Buch „Bergland“ setzt sie auch hier eine Akzentuierung auf das Ansehen der Arbeit von Frauen und zeigt im Vergleich von damals und heute, wie klein der Fortschritt auf dem Gebiet der Gleichberechtigung ist. Für mich ist das Buch erneut ein Lesehighlight und darum empfehle ich es gerne weiter.

Gittersee von Charlotte Gneuß


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Gittersee
Autorin: Charlotte Gneuß
Hardcover: 240 Seiten
Erschienen am 30. August 2023
Verlag: S. FISCHER Verlage

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Die 16-jährige Karin lebt in Gittersee, einem Stadtteil von Dresden. Es ist das Jahr 1976, sie verbringt gern Zeit mit ihrem Freund Paul und ist unentschlossen, was sie nach ihrem bald anstehenden Abschluss tun soll, während ihre beste Freundin Marie ehrgeizige Pläne verfolgt. Ihr Leben gerät aus dem Tritt, als Paul von einem Ausflug nach Tschechien nicht zurückkehrt. Er soll Republikflucht begegangen haben, wovon sie jedoch nichts geahnt hat. Trotzdem muss sie immer wieder Befragungen über sich ergehen lassen. Dabei muss sie bald erkennen, dass ihr Verhalten in diesem Zusammenhang unweigerlich Konsequenzen nach sich zieht.

Der Roman beginnt mit einer sehr kurzen Szene, in der Rühle einen verunglückten Motorradfahrer findet. Danach übernimmt die Ich-Erzählerin Karin das Wort, die sich an ihren letzten Tag mit Paul erinnert. An diesem hat er sie beharrlich zu überreden versucht, mit ihm und seinem besten Freund Rühle übers Wochenende zum Sommersonnwendfest nach Tschechien zu fahren. Aufgrund ihrer familiären Verpflichtungen hat sie sich dagegen entschieden und sich auch nichts weiter dabei gedacht, als sie gesehen hat, mit welcher Menge Geld sich Paul auf den Weg macht.

Als Leserin erhielt ich Einblick in Katrins Leben im Familien- und Freundeskreis. Zu Hause hat sie für ihr Alter viele Verpflichtungen, denn sie kümmert sich gemeinsam mit ihrer Oma um die zweijährige Schwester, während ihre Eltern in Vollzeit arbeiten. Ihre Mutter hat Katrin im Teenageralter bekommen und tut sich schwer damit, für sie eine Mutterrolle auszufüllen. Katrins beste Freundin Marie träumt von einem gänzlich anderen Leben und vertraut ihr ein Geheimnis an. Doch Katrins Gedanken kreisen vor allem um Pauls Verschwinden, über das sie mehr zu erfahren versucht.

Beim Lesen fühlte ich mich schnell in die DDR der 70er hineinversetzt. Es ist ein Coming of Age-Roman, Katrin steht mit ihrem baldigen Abschluss am Scheideweg und muss sich entscheiden, welches Leben sie anstreben will. Das Erzähltempo ist langsam und intensiv, driftet für meinen Geschmack zwischenzeitlich aber zu sehr in Alltagsbeschreibungen ab. Pauls Verschwinden bleibt das zentrale Thema, das dafür sorgt, dass sich die Situation allmählich zuspitzt. Dabei hat die Autorin das Gefühl der Unsicherheit, wem man was erzählen kann und sollte, gelungen eingefangen. Eindringlich führt sie vor Augen, welche Konsequenzen es haben kann, Auskunft zu geben.

Erst ganz am Ende wird der Bogen zur rätselhaften Eingangsszene geschlagen. Dem voraus geht eine für Katrin ebenso wie für mich Augen öffnende Enthüllung, welche ein neues Licht auf die gesamte vorangegangene Handlung wirft und das Ausmaß an Manipulation deutlich macht, die hier im Spiel war. 

Mittwoch, 30. August 2023

Rezension: Marschlande von Jarka Kubsova


Marschlande
Autorin: Jarka Kuvsova
Hardcover: 320 Seiten
Erschienen am 30. August 2023
Verlag: S. FISCHER Verlage

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Britta ist vor drei Monaten mit ihrer Familie aus der Stadt in ein Haus in den Vier- und Marschlanden gezogen, einem ländlichen Gebiet im Südosten von Hamburg. Während ihr Mann Philipp viel arbeitet und in seiner Freizeit begeistert am Haus werkelt, hat Britta noch immer nicht das Gefühl, angekommen zu sein. Eines Tages stößt sie auf die Geschichte von Albeke Bleken, die im 16. Jahrhundert einen Hof in der Gegend besaß und schließlich als Hexe verbrannt wurde. Während ihre Neugier wächst, mehr über Albekes Schicksal zu erfahren, breiten sich ihre Zweifel aus, ob sie selbst sich für den richtigen Lebensweg entschieden hat.

Der Roman beginnt mit einer Szene, in welcher ein Scheiterhaufen errichtet wird, während die Menschen auf den Feldern versuchen, nicht dorthin zu blicken. Doch als sie sehen, wer dort verbrannt werden soll, breitet sich bei ihnen Entsetzen aus. Was es mit dieser Szene auf sich hat erfährt man schon kurze Zeit später, als Britta auf einem Straßenschild in ihrer neuen Nachbarschaft den Namen Albeke Bleken entdeckt und Google sie über ihr tragisches Schicksal aufklärt. Im folgenden Kapitel lernte ich Albeke selbst als erfolgreiche Hofbesitzerin kennen, ihre von wahren Ereignissen inspirierte Geschichte wird fortan abwechselnd zu der von Britta erzählt.

Britta wird seit ihrem Umzug in das Eigenheim, das in der Nachbarschaft den Spitznamen "Eispalast" bekommen hat, zunehmend von Zweifeln geplagt. Ihr Mann Philipp hat sich ohne Rücksprache mit ihr für das Haus entschieden, obwohl sie lieber etwas gemütliches Älteres gekauft hätte. Auch beruflich hat sie zurückgesteckt: Sie hat ihre Karriere als Wissenschaftlerin zugunsten von Kindern und Haushalt aufgegeben und sich für einen Teilzeitjob entschieden, den sie aus dem HomeOffice erledigen kann. Als sie sich mit Motivation in die Recherchen über Albeke Bleken stürzt, wird auch das von ihrem Mann nur belächelt.

Die Kapitel aus der Sicht von Albeke zu lesen war keine leichte Kost, da ihr Schicksal von Beginn an klar ist. Ihren Weg von der Hofbesitzerin bis zur verurteilten Hexe zu begleiten zeigt auf intensive Art und Weise, welche Widerstände Frauen erleben konnten, wenn sie sich nicht verhalten haben, wie es von ihnen erwartet wird: Wenn sie zu ehrgeizig und erfolgreich, zu wütend oder schlichtweg im Weg der Pläne eines Mannes waren. Auch wenn die Zeiten fast 500 Jahre später andere sind, so ist es doch möglich, zwischen Albekes und Brittas Erfahrungen gewisse Parallelen herzustellen.

"Marschlande" ist ein ergreifender Roman auf zwei Zeitebenen, der sich damit beschäftigt, welche Konsequenzen es haben kann, wenn man als Frau Ziele verfolgt, die nicht zum Plan einer oder mehrerer Männer passen. Er ließ mich über die Erfahrungen nachdenken, die Frauen im Laufe der Zeit gemacht haben und immer noch machen. Es ist eine Geschichte, die lange nachhallt und der ich noch viele Leserinnen und Leser wünsche.

Rezension: Gittersee von Charlotte Gneuß

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Gittersee
Autorin: Charlotte Gneuß
Erscheinungsdatum: 30.08.2023
Verlag: S. Fischer (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783103970883
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Gittersee liegt im Südwesten von Dresden und ist Handlungsort des gleichnamigen Romans von Charlotte Gneuß. Nicht nur das Foto auf dem Umschlag, sondern auch die Erzählung gab mir als Leserin einen Einblick in das Leben einer Familie, Mitte der 1970er Jahre. In einem kurzen Prolog, in dem geschildert wird, das einer Person etwas zugestoßen ist, wurde ich neugierig darauf, um wen es sich handelt und wie es geschehen ist, was eine gewisse Hintergrundspannung während des gesamten Lesens erzeugt.

Die Protagonistin Karin ist 16 Jahre alt und geht noch zur Schule. Ihre Mutter war noch jung, als sie mit ihr schwanger wurde und sie hat vor zwei Jahren nochmals Nachwuchs bekommen. Der Haushalt wird von der hinfälligen Mutter des Vaters geführt, während die Eltern beide in Vollzeit arbeiten. Karin hilft mit Selbstverständlichkeit überall, wo die Familie sie braucht. Ihr Alltag wird gestört, als ihr Freund Paul eines Tages von einem Ausflug nicht wiederkehrt. Daraufhin steht die Polizei vor der Tür ihres Zuhauses und hat eindringliche Fragen an sie, ob sie von Pauls Plänen gewusst hat, der vermutlich aus der Republik geflohen ist.

Karins Leben lief in geordneten Bahnen. Der Kapitalismus im Westen wurde zwar immer wieder, meist in der Schule beschimpft, aber die Teilung Deutschlands hatte für sie persönlich keine Wichtigkeit. Von ihrer Mutter erfährt Karin, dass es Personen gibt, die raus wollen aus dem biederen Umfeld, das eingesponnen ist in die sozialistischen Ideen des Staats. Sie bemerkt es außerdem an den fliegenden Ideen ihrer besten Freundin Marie. Charlotte Gneuß flicht in die Freundschaft der beiden Mädchen Eifersucht ein.

Immer wieder wendet sich der Polizist mit weiteren Fragen an die Protagonistin und untergräbt damit die Leichtigkeit, mit der sie ihren Alltag meistert. Sie beginnt über Vergangenes nachzudenken und darüber, ob liebgewonnene Menschen ihr tatsächlich stets wohlgesonnen waren und sind. Der Verlust von Paul nagt an ihr und die Umstände seines Verschwindens werden für sie zunehmend zu einem Puzzle mit vielen Teilen ohne Hoffnung darauf, es zusammenfügen zu können. Erst allmählich wird ihr bewusst, dass ihre Aussagen Konsequenzen für andere Personen haben.

Beim Lesen fühlte ich mich kulturell zurückversetzt in die 1970er Jahre. Obwohl ich im Westen aufgewachsen bin, wusste ich durch einen langjährigen Briefwechsel mit einer Freundin im Osten unseres Landes unmittelbar um die ideologischen Unterschiede und empfand die Schilderungen der Autorin als authentisch. Die Autorin beschreibt Träume und Wünsche, nicht nur von Jugendlichen und den Willen dazu, diese zu verwirklichen, aber genauso die eingeschränkten Möglichkeiten der Realität, sie zu erreichen. Sie lässt ihre Figuren auf verschiedene Weise mit Frust umgehen und stellt manches geschickte Taktieren dar, um Ziele zu erreichen. 

In ihrem Roman „Gittersee“ erzählt Charlotte Gneuß vom Erwachsenwerden im Osten Deutschlands während der 1970er Jahre. Sie zeigt anhand ihrer 16-jährigen Protagonisten den Prozess des Bewusstwerdens der eigenen Situation und Schritte der psychosozialen Reifung auf. Ich habe die Geschichte mit Interesse gelesen und empfehle sie daher gerne weiter.

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