Johanna und Marie sind die beiden Protagonistinnen im Roman „Wild
wuchern“ von Katharina Köller. Ihre Mütter sind Zwillingsschwestern und ihre
Lebenswege könnten kaum unterschiedlicher verlaufen. Marie entspricht dem
Idealbild ihrer Mutter als braves, blondes Mädchen. Als sie erfährt, dass Johanna
fortan in ihre Klasse gehen wird und sie sich um ihre Cousine kümmern soll,
beginnt ein Konflikt, dessen Hintergründe lange im Verborgenen bleiben. Sie offenbaren
sich mit der Zeit in Rückblicken. Mich fesselte die Geschichte dadurch, dass
ich mehr über dieses Familiengeheimnis aus der Vergangenheit erfahren wollte.
Der eigentliche Spannungsbogen entsteht jedoch in der Gegenwart, im Moment des
Wiedersehens der beiden Frauen.
Am Anfang des Buchs begegnete ich Marie, die offenbar vor
etwas flieht. Die Gründe dafür klären sich ebenfalls erst im Laufe der
Erzählung, doch zunächst gibt die Autorin kleine Andeutungen. Marie hat sich
als Designerin von Schuhen einen Namen gemacht, ist inzwischen aber seit langem
arbeitslos. Mit ihrem in der Modebranche erfolgreichen Ehemann ist sie nach
Wien zurückgekehrt. Jetzt aber klettert sie einen Berg in Tirol hinauf. Dort
lebt Johanna seit ihrer Jugend als Einsiedlerin in einer Berghütte, die früher
dem Großvater der beiden Frauen gehört hat. Jahrelang hatten die Cousinen
keinen Kontakt, weil ihre Lebensentwürfe sehr verschieden sind.
Katharina Köller gelingt es eindrucksvoll, die beiden konträren
Figuren aufeinandertreffen zu lassen. In Gesprächen und durch Handeln zeigt sich
Maries Tatkraft und Entschlossenheit. Johanna hingegen, still und
naturverbunden, hat im Einklang mit der Umgebung eine feine Sensibilität
entwickelt, die nicht nur Tieren zugutekommt. Marie fällt es schwer, sich der
wortkargen Johanna zu nähern und sich mit dem Geruch der Ziegen, der überall
präsent ist, zu arrangieren. Gerade daraus wird deutlich, wie tief ihre seelische
Erschütterung sein muss, um trotz aller Widerstände bei ihrer Cousine bleiben
zu dürfen. Trotz des ernsten Hintergrunds verleiht die Autorin der Geschichte
immer wieder Leichtigkeit durch amüsante Situationen und schafft dadurch ein
Gleichgewicht, welches das Lesen bereichert und zugleicht bewegt.
Der Roman stimmt nachdenklich über die Art und Weise familiärer
Prägungen und die Erwartungen, die uns von Kindesbeinen an begleiten. Katharina
Köller wirft Fragen danach auf, wie es gelingen kann, dem „Wuchern“ in einem
eng gesteckten Rahmen zu entkommen und wie man „wild“ wachsen und Selbstbewusstsein
entwickeln kann, ohne dabei Schaden zu nehmen. Gerne vergebe ich eine
Leseempfehlung.